Mit dieser Frage hat sich bereits im August 1945 Dr. Wilhelm Kiesselbach in einem Memorandum beschäftigt. In der Zeit des Nationalsozialismus verlor er – aufgrund seiner kritischen Einstellung gegenüber den Nationalsozialisten – sein Amt als Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts und wurde im Zuge der Gleichschaltung ab 1933 entlassen. Nach Kriegsende wurde er ab 29. Mai 1945 von der britischen Militärregierung im Alter von 78 Jahren leitend mit dem Neuaufbau der Justiz in Hamburg betraut. Er wohnte zu dieser Zeit in der Bismarckallee 11 in Aumühle. 1953 wurde ihm von der Gemeindevertretung für seine Verdienste die Ehrenbürgerschaft verliehen. Mit dabei war auch Paul Lamp´l als Gemeindevertreter.
In seinem Memorandum setzte sich Kiesselbach ausführlich und kritisch mit der Frage auseinander, ob eine Parteimitgliedschaft in der NSDAP moralisch und politisch verwerflich ist oder erst dann zu einer Verurteilung führt, sobald nationalsozialistisches Gedankengut in Wort und Tat gelebt wurde. Hier folgt der Originaltext seines Memorandums:
„Der Schreiber dieser Zeilen ist von Anfang an ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus und Hitlers gewesen, er hat niemals ein Geheimnis daraus gemacht und gegen irgend jemand – einschließlich der Führer der Partei und auch niemals seinen Arm oder seine Hand erhoben aus Ehrfurcht oder als Gruß. Auch hat er zu keiner Zeit den Gruß „Heil Hitler“ in Briefen benutzt.
Er schrieb darum nicht zu seinem eigenen Gunsten, sondern im Interesse der öffentlichen Meinung und in der Überzeugung, dass am Ende der Sinn für Gerechtigkeit unter den zivilisierten Nationen seinen Platz erhalten bzw. wiedergewinnen wird.
Es ist vollkommen verständlich, dass Hitlers Reden voll Hass und arroganter Prahlerei eine wohlverdiente Reaktion bei den Nationen hervorrief, die von ihm angegriffen wurden. Es ist ebenso verständlich, dass ein tiefer Abscheu hervorgerufen wurde durch die Art, in welcher Hitler und seine Konsorten – einige von ihnen waren vielleicht noch schlimmer als er selbst – ihre Macht ausübten bzw. durch ihre Handlungen während des Krieges, hauptsächlich aber jene in der letzten Phase des Krieges, die erst in den letzten Wochen bekannt geworden sind. Für alle Zeit wird das Wort „Nationalsozialismus“ ein Beigeschmack der Geringschätzung anhaften.
Aber hieraus darf nun nicht gefolgert werden, dass jeder Nationalsozialist und jeder, der in die Partei eintrat, nur auf Grund seiner Parteimitgliedschaft Schande oder Brandmarkung verdient.
Wenn man jemandem solchen Vorwurf machen will, so kann sich dieses nur gründen auf den Umstand seines Eintritts in die Partei oder auf die Tatsache, dass er darin geblieben ist.
Um sich ein Urteil zu bilden, ob ein solcher Vorwurf gerechtfertigt oder nicht gerechtfertigt erscheint, darf man unter keinen Umständen ausgehen von den Enthüllungen über den Hitlerismus, wie sie jetzt bekannt geworden sind. Es ist eine fundamentale Wahrheit für alle Menschen mit historischem Verständnis, dass derjenige, der versuchen will, sich über eine gewisse Epoche eine Meinung zu bilden, dies nur kann, wenn er sich in die derzeitige Lage mit allen ihren besonderen Umständen zurückversetzt. Ebenso wie jemand, der versucht, sich über eine gewisse Tat oder über die geistige Haltung irgendjemandes eine Meinung zu bilden, dies nur kann, wenn er die Beweggründe abschätzt, die hierzu Veranlassung gegeben haben, und wenn er sich hierbei in die Situation zurückversetzt, die diese entstehen ließen.
Es ist deshalb nötig – und auch für die Gerechtigkeit erforderlich -sich die Umstände des Zeitraumes, beginnend 1933 und die darauffolgenden Jahre der hier zur Betrachtung steht, zu vergegenwärtigen.
1) Zweifellos war Hitlers Partei in ihren ersten Anfängen eine revolutionäre. Sie war gerichtet gegen die Republik und das Parlamentssystem, aber sie bekämpfte nicht die Idee der Demokratie, wie es in Hitlers Buch „Mein Kampf“ gezeigt wird, wenigstens in den Ausgaben vor 1933, obgleich Hitler diese Idee in der Art seiner Erörterung hierüber verdreht.
Aber nicht jede revolutionäre Bewegung ist als solche verbrecherisch. Weder die englische Revolution von 1648 und 1688, noch weniger die amerikanische Revolution von 1776 und die deutsche von 1848 haben einen Beigeschmack des Unehrenhaften.
Wenn irgend etwas verbrecherisches in einer Revolution enthalten ist, so kann dieses nur in den Mitteln liegen, die angewandt werden, um sie durchzuführen. Wenn man sich die Mittel und die Agitation vergegenwärtigt, deren Hitler sich damals bediente, dass sie entflammend und geschickt, wie sie waren, doch nicht als verbrecherisch gebrandmarkt werden können.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu vermerken, dass im September 1930 der höchste Gerichtshof des demokratischen Deutschlands, der Staatsgerichtshof, vor dem Hitler als Zeuge verhört wurde, ihm bestätigte, dass er mit legitimem Mitteln arbeite (Entscheidung in dem wohlbekannten Fall der Reichswehroffiziere von Ulm, die angeklagt waren, nationalsozialistische Zellen gebildet zu haben).
Es ist wahr, dass die Agitation zündend war, denn sie sollte die Massen in den Straßen für sich gewinnen. Gleichzeitig war sie geschickt, denn sie versprach den gebildeten Klassen alles das, wonach sie strebten.
Am 30. Januar 1933 erlangte diese gut vorbereitete Revolution die Billigung des verehrungswürdigen Feldmarschalls von Hindenburg, der Hitler zum Reichskanzler machte, nachdem der Bann, der auf der Partei lag, kurze Zeit vorher im Sommer 1932 vom Reichskanzler von Papen aufgehoben worden war.
In der Übereinkunft im Harz schloss sich Hitler der Partei der Deutschnationalen – die sehr angesehenen „deutsche Tories“ – sowie dem Stahlhelm an, letztere eine Organisation, die aus heißem Patriotismus heraus geboren worden war.
In der darauffolgenden Wahl am 5. März 1933 folgte ein großer Teil des Volkes diesem Beispiel, unter ihnen zahlreiche Liberale und Demokraten, so dass Hitler die absolute Mehrheit mit 52% Stimmen erhielt.
Wenn bei dieser Gelegenheit die nationale Schlüsselnote derart stark widerhallte, so ist dies dem Umstand zuzuschreiben, dass die unvergessene Not und die Erniedrigung, die aus dem Versailler Vertrag hervorgegangen war, ständig wieder fortdauerte und schwer auf jedem Deutschen lastete. Dazu kam das schreckliche allgemeine Elend, das sich durch die Weltkrisis von 1929 noch verstärkte.
Jeder Handel und jede Produktion stockten, in den Jahren 1929 und 1930 – um nur ein Beispiel zu geben – war der Ertrag Deutschlands auf 1/3 zurückgegangen. Man stelle sich vor, dass durchschnittlich alle drei Stunden ein Bauernhof in Deutschland während des Zeitraumes von 1924 – 1932 zum öffentlichen Verkauf kam. Der Raum, der so in öffentlichen Auktionen verkauft wurde, entsprach der Größe des Großherzogtums Hessen, d.h.7692 qkm. Der Umfang der Arbeitslosigkeit wurde immer größer. Die Zahl der Arbeitslosen, die 1930 drei Millionen betrug, wuchs im Jahre 1931 auf fünf Millionen und 1932 auf sieben Millionen. Der Lohn wurde gekürzt, jeder fühlte, dass die Basis seiner wirtschaftlichen Existenz erschüttert war.
Hitler versprach, alle diese Übel zu beseitigen. Er versprach ebenfalls Wiederherstellung der Monarchie, wie Rauchnig in seinem Buch berichtet, für welches Versprechen viele sehr empfänglich waren.
Wenn sein Programm viele unangenehme Sachen enthielt, umfasste es auch verschiedene Punkte, denen jeder anständige Deutsche beipflichten konnte; Schaffung einer streng zentralisierten Macht, Freiheit aller religiösen Konfessionen, Anerkennung des positiven christlichen Glaubens überall. Kein Geschichtsschreiber kann ableugnen, dass Hitler zu der damaligen Zeit unvorhergesehene Möglichkeiten gehabt hätte, den Frieden zu sichern, wenn er ein Staatsmann gewesen wäre. Heute ist jedem klar, dass er kein Staatsmann war, sondern nur ein beschränkter Parteipolitiker, ohne jede Moral. Aber 1933 war die Lage durchaus anders. Während es zutreffend ist, dass die Abneigung gegen den gewissenlosen Antisemitismus in der Innenpolitik viele Deutsche veranlasste, Hitlers Programm abzulehnen, so ist es auf der anderen Seite nicht erstaunlich, dass die große Mehrheit sich zu Hitler bekannte aus einem Optimismus heraus, der aus bitterster Not geboren wurde.
Dies erklärt auch den Umstand, dass es in jenen Monaten so viele Deutsche in die Partei eintraten, deren Eintrittsdaten dann auf den 1. April oder 1. Mai festgelegt wurden, zum Zweck des Parteirekords. Dies erklärt auch ferner die Tatsache, dass sich die Partei der Deutschnationalen und der Stahlhelm Hitlers Regierung anschlossen sowie dass die Nationalliberalen der Partei beitraten.
In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, wie der Schreiber dieses aus persönlicher Beobachtung weiß, dass zahlreiche rein sachliche denkende und friedliebende Leute in die Partei eintraten in der ausgesprochenen Hoffnung, durch ihre Mitarbeit die Art und den Ton in der Partei mäßigen. Aus dem Zusammenhang heraus, dass jene Hoffnung verwirklicht werden könnte, begrüßten viele wärmstens solche Zugehörigkeit zur Partei und setzten sich aktiv für sie ein.
Wer jener Richtung der damaligen Zeit folgte, mag als kurzsichtig und leichtgläubig angesehen werden, aber man hat keine Berechtigung, daran zu zweifeln, dass seine Haltung redlich war und beabsichtigte, den Staat erhalten. Ebenso wenig ist ein Grund vorhanden, diese Leute hierfür zu bestrafen, nachdem nunmehr eine Entwicklung von 12 Jahren, die Welt aufgeklärt hat, oder sie auf die gleiche Stufe mit denjenigen zu stellen, die sich an oder in die Regierung drängten, sei es aus ehrlicher Überzeugung oder sei es aus unanständigen Gründen.
In diesem Zusammenhang ist es angebracht, sich daran zu erinnern, dass während der ersten Wochen die Haltung der Mehrheit der führenden englischen und amerikanischen Zeitungen in keiner Weise unfreundlich waren. Die ausländischen Regierungen, die die Angelegenheit von einem höheren Standpunkt politischer Entfernung besser beurteilen konnten, anstatt von einem nahen, lösten sie nicht etwa ihre Verbindung mit der neuen deutschen Regierung, sondern setzten im Gegenteil durch Abschluss verschiedener Verträge Vertrauen in sie, was auch die Deutschen zu ihr hatten und die sich dadurch bestätigt fühlte.
2) Während jemand nicht dafür getadelt werden kann, dass er 1933 in die Partei ging, mag die Frage auftauchen, ob er nicht dafür einen Vorwurf verdient, dass er weiterhin in der Partei verblieb. Soweit die Zeit bis 1937 in Betracht kommt, so birgt diese Frage Ähnlichkeit mit derjenigen in sich, wie der Eintritt in die Partei 1937 anzusehen ist. Von 1933 bis 1937 hat die Partei große Erfolge gehabt in der Innen- und Außenpolitik.
Das wichtigste und dringendste Problem der Arbeitslosigkeit ist gelöst worden, am Ende des ersten Jahres hatte ein Drittel der Arbeitslosen Arbeit und am Ende von vier Jahren ist die Zahl der Arbeitslosen auf eine halb Million gesunken. Das nationale Einkommen ist auf 50 % gestiegen, während die lebenswichtigen Ausgaben nur sehr wenig zunahmen.
Die landwirtschaftliche Produktion hat beträchtlich zugenommen, wodurch die Bauern sich wirtschaftlich erholen konnten. Ein beträchtlicher Teil des Systems der Reichsautobahnen ist fertiggestellt worden und gab dem Verkehr Auftrieb.
Es ist wahr, dass dieser Auftrieb zu einem gewissen Grade durch zweifelhafte Mittel erreicht wurde. Da unglücklicherweise nur wenige Leute sich ihre wirkliche Natur vergegenwärtigen konnten, machte sie einen tieferen Eindruck auf die deutsche Nation, um so mehr als die Propaganda der durch die Regierung kontrollierten Presse den glänzenden Wechsel in der ökonomischen Situation hervor hub.
Noch weit eindrucksvoller waren die Erfolge mit Bezug auf die ausländischen Beziehungen. Hitler hatte Frankreich bei verschiedenen Gelegenheiten erklärt, dass, wenn das Saargebiet zu zurückgekehrt sei, das Reich keine weiteren territorialen Forderungen gegen Frankreich habe. Mit England schloss das Reich im Jahre 1937 einen Vertrag auf fünf Jahre, der eine Beschränkung der Kriegsflotte und einen Austausch von Informationen über maritime Konstruktionen vorsah, wodurch beglaubigt wurde, dass auch auf englischer Seite Zutrauen zu der deutschen Regierung herrschte. Dann folgten die Erfolge der inneren Politik.
Im Jahre 1935 entschied sich durch Volksentscheidung das Saargebiet mit überwältigender Mehrheit für die Rückkehr ins Reich. Im März 1935 wurde 81% deutsche Stimmen im Volksentscheide ds Memelgebiets erzielt.
Im März 1936 wurde die volle Souveränität im Rheinland wieder hergestellt. Alle diese Erfolge beeinflussten die Ansichten der Masse so stark, dass ihre Aufmerksamkeit von den Ereignissen anderer Art abgelenkt wurde, wie den tiefbedauerlichen Vorfall des Sommer 1934, den die Times richtig als „Gestank in den Nasenlöchern der Welt“ bezeichnete und den ekelhaften Methoden die in der Behandlung der Juden und der Personen mit anderer politischer Einstellung 1936/37 angewandt wurden.
In diesem Zusammenhang muss man ebenfalls in Betracht ziehen, dass das Bild, das sich die Menschen innerhalb Deutschlands von solchen Ereignissen machen konnte, auf Informationen der Nazipresse und des Radio beruhen, deren gefärbte Art nur allzu bekannt ist. Man kann die so geschaffene Situation nicht richtig betrachten, wenn man als Maßstab die Kenntnis der Dinge anwendet, die wir jetzt erworben haben. Jedermann wird verstehen, warum während des Krieges die alliierten Mächte unter dem Eindruck der Ereignisse von 1939 bis 1945 sich weigerten, in irgendwelche Verhandlungen mit Hitler zu treten. Man darf nicht vergessen, dass noch im Jahre 1938 Chamberlain, ein Mann höchsten Ranges, der alle Informationsquellen zu seiner Verfügung hatte, nicht zögerte, nach Deutschland zu gehen, in dem Glauben und in der Hoffnung, dass es möglich wäre, mit Hitler zu einer Verständigung zu gelangen. Außerdem, wie mir glaubwürdig berichtet wurde, erschien in England ungefähr zur selben Zeit ein Buch von Ward Prics, welches in keiner Weise zu ungünstigen Beurteilungen kam.
Alle diese wesentlichen vorstehenden Umstände müssen in Betracht gezogen werden, um zu einer gerechten Bewertung des Verhaltens der großen Anzahl untadeligen Personen von untadeligen Personen zu kommen, die der Partei 1937 beitraten und in ihr verblieben.
In diesem Zusammenhang darf man nicht vergessen, dass, soweit es die öffentlichen Beamten betrifft, deren Verbleib im Amt und Beförderung nur dann gesichert war, wenn die der Partei angehörten. Wenn auf der einen Seite die Regierung voll und ganz überzeugt von ihren Erfolgen die Erlaubnis des Beitritts in die Partei, der 1937 wieder möglich war, als ein gewisses Privilegium betrachtete, so wandte sie auf der anderen Seite einen sehr starken Druck an, um das Volk in die Partei hinein zu bringen.
Zu diesem Zweck wurden verschiedene Methoden angewandt. Zivilbeamte in geringerer Stellung wurden in zahllosen Fällen einfach beordert, in die Partei einzutreten. Diejenigen in höheren Stellungen wurden in mehr persönlicher Weise überzeugt, dies zu tun, wenn nötig, wiederholt und jedes mal energischer. Diejenigen aber, die sich weigerten, diesem nachzukommen, ganz abzusehen von denen welche wieder aus der Partei austraten, verloren alle Möglichkeiten der Beförderung, und hatten außerdem noch zu befürchten, pensioniert zu werden, wenn sie nicht einfach von ihrem Amt ohne irgendwelche Pension abgesetzt wurden. Der § 71 des deutschen Beamtengesetzes sieht die Entlassung eines jeden Zivilbeamten (Richter eingeschlossen) vor, der zu irgendeiner Zeit nicht mehr als sicher galt, zu den Nationalsozialisten zu halten.
Die Gefahren, die sich aus dieser Lage der Dinge ergaben, waren die fühlbarsten und ernstesten, da die wirtschaftliche Widerstandskraft des deutschen Volkes durch den Weltkrieg und im Anschluss daran durch die Inflation außerordentlich geschwächt worden war. Die große Mehrheit des Volkes war für ihren Lebensunterhalt vollkommen von den Gehältern oder von ihrem Einkommen durch die Arbeit abhängig und nur einige Wenige hatten zu ihrer Verfügung Einkommensquellen aus persönlichem Besitz. Deshalb musste sich ein verheirateter Mann die Frage vorlegen, ob er, um seiner Überzeugung treu zu bleiben, es rechtfertigen konnte, dadurch Frau und Kinder dem Elend preiszugeben. Solche Überzeugungstreue mag durch viele bewundert und durch wenige missbilligt worden sein. Aber nicht jedermann ist als Märtyrer geboren.
Aber auf alle Fälle sollte man die, welche eine andere Entscheidung trafen, nicht jetzt dafür verantwortlich machen und sie als unwürdig betrachten, in ihrem Amt zu bleiben.
3) In Verbindung mit dem Vorstehenden scheint es richtig, sich mit einem jetzt häufig gehörten Vorwurf auseinanderzusetzen, der nur entfernt mit dem Problem der Parteimitgliedschaft zusammenhängt, nämlich dem Vorwurf, die ehrlosen, durch Hitler und seine Komplizen begangenen Handlungen geduldet zu haben.
Um diese Anklage aufrecht erhalten zu können ist eine Vorbedingung, dass die, gegen welche sie gerichtet, Kenntnis der Verbrechen hatten. Wenn man auch verstehen kann, dass vom rein sentimentalen Standpunkt solche Anklage gemacht werden kann, ist dieses jedoch nicht fundiert, wenn man sie im Lichte der gegenwärtigen Lage betrachtet. Eine eiserne Zensur vernichtet die Unverletzbarkeit von Briefen, überwachte Telefone. Das Radio, die Presse, welche beiden letzteren ganz ausschließlich in Händen der Partei waren. Alle Zivilbeamten standen unter rechtlichen Verpflichtung, sofort Anzeige von irgendeiner Bemerkung zu machen, die zu ihrer Kenntnis kam, und die den leisesten Verdacht erwecken konnte. Selbst in der Periode kurz vor der Besetzung war das Volk für seine Informationen auf die nicht kontrollierbaren Gerüchte angewiesen, ausgenommen bei den inoffiziellen Mitteilungen, die der Zensor durchgehen ließ. Auf den Straßen, in der Straßenbahn, in der Eisenbahn, in den Restaurants, den Klubs, in Läden und Fabriken, ja selbst in seinem gesellschaftlichen Verkehr war das Volk den Überhörern und den Denunziationen ausgesetzt. Die geringste Missbilligung, oder pessimistische Bemerkung schloss Gefahren für Leib und Leben in sich. Jede aus dem Konzentrationslager entlassene Person hatte sich schriftlich zu verpflichten, die strengste Schweigepflicht zu beachten, häufig durch die Drohung verschärft, dass der Bruch der Verpflichtung, selbst außerhalb Deutschlands begangen, die blutigsten Folgen nach sich ziehen würde.
Der Schreiber dieser Zeilen ist mit vielen Personen zusammengetroffen, die aus den Konzentrationslagern entlassen waren, darunter einige, die ihm sehr nahe standen. Aber keinem von ihnen entschlüpfte auch nur ein Wort über die von ihnen erduldeten Grausamkeiten. Deshalb kann auch nicht argumentiert werden, das die Geschehnisse in Deutschland zur Kenntnis des Volkes gelangt seien und das dieses mit dafür verantwortlich sei.
Aber selbst, wenn man für die Stichhaltigkeit der Beweisführung dieses annehmen sollte, dass das Volk von solchen Vorgängen Kenntnis hatte, was hätte es denn tun sollen? Untermischt zwischen dem Volke war die große Masse derjenigen, die einträgliche Posten erhalten hatte, sei es dass sie ihre nationalsozialistische Überzeugung zeigten, sei es, dass sie an Hitler und seine Versprechungen aus ehrlicher Überzeugung glaubten. Es genügte, dass einer von diesen Genossen Wind davon bekam, dass irgend etwas nach politischer Opposition aussah, so würde eine Mitteilung von ihm an die Behörden Tod oder Konzentrationslager für die darin verwickelten Personen bedeutet haben.
Die gegenwärtige Besetzung Deutschlands durch die alliierten Mächte illustriert besser als irgend etwas anderes, dass ein Volk durch geeignete Mittel davon abgehalten werden, unerwünschte Handlungen zu begehen. Die von den Alliierten angewandte Überwachung ist völlig verschieden von den Methoden, wie sie die Nazis angewandt haben. Aber sie ist so meisterlich organisiert und zeigt durch ihr Beispiel, dass niemand auch nur daran denken kann, erfolgreich eine Handlung zu begehen, die im Gegensatz zu dem Willen der Besatzungsmacht steht, wenn eine geeignete Kontrolle ausgeführt wird. Wieviel sicherer konnte nun dieses Ziel durch die von Hitler und seine Regierung angewandten Methoden erreicht werden, die mit der rücksichtslosesten Gewalt durchgeführt wurden. Während des Krieges wurden diese Methoden noch weiter verschärft unter dem vollkommenen Vorwand, das Land und die bewaffnete Macht dadurch zu stärken.
Nichtsdestoweniger war eine erhebliche Opposition am Werke. Das wird durch die Tatsache bewiesen, das viele Tausende, wenn nicht Zehntausende, in den Konzentrationslagern duldeten und starben, weiterhin durch die unzähligen Todesurteile und nicht zuletzt durch die tragischen Ereignisse des 20. Juli 1944. Wenn man die, welche aktiv in der Opposition standen und sich voller Mut selbst opferten, nicht der deutschen Nation als Aktivposten zu Gute hält, kann man auch diejenigen, die untätig blieben nicht dafür zur Verantwortung ziehen. Auf keinen Fall ist hiermit beabsichtigt, das deutsche Volk reinzuwaschen.
Es hat die Folgen ihrer verbrecherischen Missregierung zu tragen und darunter zu leiden, und es ist nur zu begrüßen, das alle die, welche nationale oder internationale Gesetze missachteten, ohne Gnade zur Verantwortung gezogen werden. Ebenso muss als richtig anerkannt werden, dass diejenigen, welche im öffentlichen Leben ostentativ als überzeugte Nationalsozialisten auftraten, aus ihren Stellungen verschwinden müssen.
Aber das ist nicht der Punkt, um den es sich hier dreht. Der Sinn dieser Ausführungen ist, zu zeigen, dass es unangebracht und unvernünftig ist, lediglich die Tatsache der Parteizugehörigkeit als genügenden Maßstab zur Bildung eines Urteils über eine Person zu nehmen. Wenn, wie es versprochen worden ist, der deutschen Nation eine Wiederaufrichtung erlaubt sein soll, dann kann man auch nur die durch Entlassung bestrafen, die unfähig erscheinen, auf ihrem Posten wegen der Art und Weise, in welcher sie aktiven Anteil am politischen Leben nehmen, zu verbleiben. Diejenigen aber, die nur der Partei angehörten und lediglich solche Pflichten erfüllten, die ohne politische Natur hiermit zusammenhingen, gehören nicht in diese Kategorie.“
Der Präsident des hanseatischen Oberlandesgerichts, Dr. Kiesselbach, im August 1945