Vierter Stolperstein in Aumühle feierlich verlegt

Sie glänzen mit ihrer Oberfläche aus Messing und machen so auf sich aufmerksam: Stolpersteine heißen die kleinen viereckigen Steine, die auf Fußwegen vor Häusern eingelassen sind und die an Menschen erinnern, die in der Zeit des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 verfolgt und ermordet wurden. Der deutsche Künstler Gunter Deming hat diese Aktion 1996 ins Leben gerufen, mittlerweile sind mehr als 90.000 Gedenksteine in ganz Europa verlegt.

Der Kulturwissenschaftler Nikolay Müller-Wusterwitz bei der Gedenkveranstaltung

Am 19. August wurde nun in der Sachsenwaldstraße 10 der vierte Stolperstein in Aumühle verlegt, dieser Stein erinnert an den Juristen Walter Pauly (1904 bis 1944). Zur Gedenkveranstaltung kamen rund 70 Personen, darunter auch Angehörige der Familie Pauly. Der Aumühler Kulturwissenschaftler Nikolay Müller-Wusterwitz hatte die Hintergründe der Ermordung Paulys recherchiert und dafür gesorgt, dass nun ein weiterer Gedenkstein vor der Villa Vierlinden (auch Pauly-Villa genannt) seinen Platz fand. Müller-Wusterwitz und Bürgermeister Knut Suhk (Bündnis 90/DIE GRÜNEN) erinnerten in ihren Reden an das Leben von Walter Pauly und dessen Tötung im Alter von 40 Jahren. Er wurde am 19. August 1944 in der „Provinzial-Irrenanstalt“ in Meseritz-Obrawalde im heutigen Polen ermordet, als Opfer der Euthanasie, in der psychische Kranke systematisch umgebracht wurden.

Walter Pauly

Über das Leben und den Tod von Walter Pauly 

Nikolay Müller-Wusterwitz hat die Informationen in akribischer Forschungsarbeit zusammengestellt und am 14. Mai 2024 erstmals vorgestellt. Hier die Ergebnisse seiner Recherche:

Geboren 1904, wohnte Walter Pauly ab 1906 mit seinen Eltern und schließlich vier Geschwistern in Aumühle in der jetzigen Sachsenwaldstraße 10. Er litt früh unter psychischen Problemen und wurde jeweils nach kürzeren Aufenthalten in Privatsanatorien (1928, 1931, 1934) im Jahr 1936 im Privatsanatorium Dr. Muthmann in Freiburg/Breisgau entmündigt und in eine geschlossene Anstalt eingeliefert. 1937 erfolgte die Diagnose „Schizophrenie“. Mehrere Jahre verbrachte er in der Bremischen Heil- und Pflegeanstalt in Bremen-Ost.

Nach schweren Bombenangriffen auf Bremen und Zerstörung der Anstalt erfolgte Ende 1943 eine Not-Evakuierung, zunächst nach Kloster Blankenburg/Ostpreußen, und  von dort  eine Verlegung nach Meseritz-Obrawalde im damaligen Preußen (heute Polen). 

Psychisch kranke Menschen wurden Anfang des 20. Jahrhunderts in der Gesellschaft geächtet und oft von den eigenen Familien zurückgewiesen. Sie lebten am Rande der Gesellschaft. Die damalige 4. Irrenanstalt bei Meseritz galt bei ihrer Eröffnung am 3. November 1904 (dem Geburtsjahr von Walter Pauly) als eine moderne Irrenanstalt mit Fachärzten und ausgebildetem Pflegepersonal und therapeutischen Angeboten, Handwerksstätten, Küche, Wäscherei und Garten.

Zum 600 Hektar großen Klinikgelände gehörten landwirtschaftliche Flächen, auf denen Getreide, Kartoffeln, Obst und Gemüse angebaut wurden. Die Erträge wurden in der Krankenhausküche verarbeitet. Die Patienten kümmerten sich unter Anleitung um die Grünanlagen und die Blumenbeete. Viele durften sich auf dem Gelände frei bewegen und kamen dadurch in Kontakt mit dem Personal und deren Familien. Es gab Gymnastikangebote und Sportaktivitäten auf dem Sportplatz oder in der Turnhalle. Die Badeanstalt an dem nahen Fluss der Obra konnte genutzt werden.

Eine Luftbildaufnahme der gesamten Anlage

Rassenlehre und Euthanasiegesetz

Im Herbst 1939 unterzeichnete Adolf Hitler unmittelbar nach Kriegsbeginn das Euthaniegesetz, nachdem die menschenverachtende Rassenlehre schon seit 1933 an den Schulen gelehrt wurde. Dieses Gesetz erlaubte die Tötung psychisch kranker Menschen („unwertes Leben schwächt den Volkskörper“). Menschen, die zuvor Kranke gepflegt hatten, reichten ihnen jetzt Gift oder ermordeten sie mit einer Giftspritze. Aus der Heil- und Pflegeanstalt wurde eine berüchtigte Tötungsanstalt.

Die systematischen Tötungen der Patienten durch das Pflegepersonal begannen vermutlich im Sommer 1942. Aus mindestens 26 deutschen Städten trafen, meist in der Nacht, Transporte mit behinderten Patienten ein. Das Personal selektierte schon bei der Ankunft „arbeitsunfähige oder arbeitsunwillige“ aus. 

Dies bedeutete das sofortige Todesurteil. Die Auswahl war jedoch willkürlich, denn dazu zählten auch solche, die den Pflegekräften Arbeit machten, taubstumm, krank, aufsässig, undiszipliniert waren oder einfach nur „unangenehm“ auffielen, sowie jene, die geflohen und wieder eingefangen wurden oder eine unerwünschte Liebesbeziehung unterhielten.

Auf dem Totenschein wurde in der Regel „Herz- oder Altersschwäche“ vermerkt. In der Anstalt befanden sich nicht nur Patienten aus Deutschland, sondern auch aus Polen und der Sowjetunion. Des weiteren befanden sich dort Kriegsgefangene aus vielen europäischen Ländern, die von der Wehrmacht überfallen worden waren, sowie Personen, die wegen ihrer politischen Überzeugung hier eingesperrt wurden. Nach der Befreiung aus der Todesanstalt am 29. Januar 1945 durch die Rote Armee setzte sich der größte Teil des Pflegepersonals nach Westen ab. Nur wenige wurden später gefasst, kamen vor Gericht und wurden verurteilt . Die Anklage lautete auf heimtückische gemeinschaftliche Tötung von Menschen aus niedrigen Beweggründen beziehungsweise auf Beihilfe zum gemeinschaftlichen Verbrechen des Mordes. Aus den beschlagnahmten Akten geht hervor, das allein im Zeitraum der letzten beiden Kriegsjahre über 10.000 Personen ermordet wurden – persönlich durch das Pflegepersonal.

Weitere Informationen und Hintergründe über Aumühle im Nationalsozialismus und die ersten verlegten drei Stolpersteine in Aumühle finden Sie hier.

Noch ein Hinweis zu den Stolpersteinen: Die Aktion ist nicht unumstritten. Ein Kritikpunkt richtet sich zum Beispiel gegen die Lage am Boden. Sie erlaube kein Gedenken auf Augenhöhe, zumal die Menschen in den Häusern und nicht auf den Straßen gelebt hätten. Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in München, Charlotte Knobloch, hat sich gegen die Steine ausgesprochen, weil sie nicht fassen kann, „dass dort die Namen von Holocaustopfern zu Füßen der Menschen angebracht werden“. 

An dieser Stelle möchte ich auch ein Buch/einen Film empfehlen: „Einer flog über das Kuckucksnest“ von Ken Keseys aus dem Jahre 1962 und die gleichnamige Verfilmung aus dem Jahre 1975 von Milos Forman mit Jack Nicholson in der Hauptrolle. Der Film spielt in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt im Amerika der 1970er Jahre und handelt davon, wie ein Neuankömmling die dort herrschende repressive Ordnung infrage stellt, wodurch diese letztlich aus den Fugen gerät. Der Film gewann 1976 bei der Oscarverleihung alle fünf Hauptpreise und löste weltweit eine Diskussion über die zum Teil unhaltbaren Zustände in den Psychiatrien aus. Man mag sich nicht vorstellen, welche Zustände in den Anstalten in der Zeit des Nationalsozialismus geherrscht haben. Zum Beispiel gab es:

  • Gefälligkeitsgutachten im Sinne der Rassenlehre
  • Zwangsernährung
  • Zwangssterilisation
  • Zwangsmedikation
  • Fehlende Kontrollen der Anstalten durch neutrale Gremien
  • Machtmissbrauch
  • Elektroschocks
  • Fragwürdige Therapien

ULRICH SCHRÖDER

Hinweis: Der Autor hat die Aufgabe übernommen, den Stolperstein für Walter Pauly weiter zu pflegen.