Geschichte be-greifbar machen am Beispiel von Wilhelm Bewersdorff, hauptamtlicher Bürgermeister von Aumühle zwischen 1933 und 1943 – eine ausführliche Recherche und der Versuch, die damaligen Ereignisse in unserer Kommune zeitgeschichtlich einzuordnen
Vorgeschichte/zu meiner Person:
Als systemischer Familientherapeut habe ich mich beruflich und auch privat mit dem Thema „Familiengeheimnis“ beschäftigt. Zu den Familiengeheimnissen gehört auch das Schweigen über die Verbrechen der Nazizeit und die Frage, ob und wie weit wir Deutsche, also unsere Eltern- und Großelterngeneration, um diese Verbrechen wussten und, falls sie darum wussten, wie sie mit diesem Wissen umgingen. Oder waren sie sogar Täter oder Täterinnen?
Nach dem Tod der Eltern meiner Frau fanden wir in ihrem Elternhaus 1998 bei der Haushaltsauflösung zahlreiche Dokumente, Briefe Fotoalben und Materialien unter anderem aus der Zeit des Nationalsozialismus vor, denn hier hatte Wilhelm Bewersdorff von 1928 bis 1943 mit seiner Frau Minna und den beiden Töchtern gewohnt. Meine Frau war eine Enkelin von Wilhelm und Minna.
Wir kamen danach überein, das ganze Material in unserem Haus einzulagern, um es später vielleicht einmal auswerten zu können. Dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen, und da meine Frau vor sechs Jahren verstorben ist, habe ich beschlossen, dieses Material für eine mehrbändige Familienchronik zu verwenden. Auszüge daraus erscheinen in diesem Format.
Bei den Recherchen hat mich unter anderem interessiert, wie sich Mittäterschaft und Mitwisserschaft der vielen in Naziverbrechen verstrickten Personen auf deren Familien – die Beziehungen, ihre Kinder und Enkelkinder – ausgewirkt hat. Aber auch auf die Nachbarschaft, Freunde, Bekannte, Verwandte, Vereine und das soziale Miteinander in den Kommunen.
Jetzt wird sich der eine oder die andere an dieser Stelle vielleicht fragen, was gehen uns, also die heutigen Nachkriegsgenerationen, die Naziverbrechen und die alten Familiengeheimnisse an?
Aber in dem Maße, in dem wir uns als „Nachgeborene“ weiterhin als Deutsche fühlen, können wir Schuld, Scham und Sühne nicht so ohne weiteres abstreifen. Wir sind aufgefordert Stellung zu beziehen und dürfen nicht die Augen verschließen vor dem wachsenden Extremismus und Antisemitismus in Deutschland. Im September könnte die AfD (Alternative für Deutschland) stärkste Partei in drei Landtagswahlen werden.
Die Ursachen für den derzeitigen Zulauf zu Rechtspopulisten und -extremisten sind in nahezu allen westlichen Ländern gleich: Es herrscht eine diffuse Angst vor dem sozialen Abstieg, eine Verunsicherung wegen etlicher Krisen (Klima, Kriege), Argwohn gegen Migranten und Frust über die Regierenden.
In Deutschland ist die AfD nicht nur ein Phänomen des Ostens. Laut aktuellen Umfragen liegt sie im Bund bei mehr als 20 Prozent, auch ohne charismatischen Verführer. Nicht nur das politische, sondern auch das gesellschaftliche Klima hat sich verändert. Schon vor dem 7. Oktober 2023 (dem Massaker der Hamas gegen Zivilisten in Israel und den ständigen Raketenangriffen) gab es in Deutschland einen zunehmenden Antisemitismus und mehr Gewalt gegen Juden, Migranten und Minderheiten.
Wir dürfen aber auch nicht schweigen zu Israels Kriegsführung in Gaza. Es gibt deutliche Anzeichen für massive Kriegsverbrechen seitens der israelischen Armee durch ihre kollektive Bestrafung und ihr Dauerbombardement der Zivilbevölkerung von Gaza mit mehr als 22.000 Toten. Mehr als einer Million Menschen droht der Hungertod, warnt die UN.
Nicht nur im Nahen Osten muss daher über eine neue Friedensordnung nachgedacht werden, sondern auch in Europa. Wir sollten ein Vorbild sein dafür, wie Völker ohne Krieg und Gewalt zusammenleben können. Dieses Projekt ist noch nicht abgeschlossen. Es braucht eine europäische Friedensordnung für die Zeit nach dem Krieg von Putins Russland gegen die Ukraine.
Ein Rückblick in unsere jüngere Geschichte in der Bundesrepublik Deutschland zeigt, dass ein Neuanfang auch nach einer Diktatur und einem Weltkrieg möglich ist. Wir sollten unsere Demokratie daher nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, sondern sie mit Entschlossenheit verteidigen.
ULRICH SCHRÖDER
(Jahrgang 1951, Dipl.-Sozialpädagoge, systemischer Familientherapeut, Mediator)
Wilhelm Bewersdorff – eine Kindheit in preußischer Erziehung
Die Vorfahren von Wilhelm Bewersdorff stammten aus der Ostseeküstenregion (Kolmar; Stettin) und der ehemaligen Provinz Pommern (Naugard). Die östlichen Provinzen im damaligen Pommern wechselten zwischen 1904 und 1945 mehrmals, als Folge der beiden Weltkriege, die Staatsgrenzen.
Ende des 19. Jahrhunderts zogen seine Vorfahren dann nach Berlin (Friedenau; Wannsee in den Bezirk Steglitz). Wilhelm wurde am 10. Juli 1888 als zweites Kind geboren. Sein Bruder Richard war acht Jahre älter, 1891 kam noch eine Schwester, Elisabeth, hinzu. Der Vater war bei seiner Geburt 37 Jahre alt und arbeitete von 1892 bis 1902 als Prokurist in der Berliner Firma von Carl Bamberg (Präzisionsmechanik, im Ersten Weltkrieg wurde für die Rüstung produziert).
Wilhelm besuchte die Realschule in Berlin-Steglitz. Er war aus Sicht der Eltern kein „angepasster“ Junge und mit einem starken Willen ausgestattet. Die Prügelstrafe war in dieser Zeit sowohl im Elternhaus als auch in der Schule ein gängiges „Zuchtmittel“. Die preußischen Erziehungsideale lauteten: „Fleiß; Ordnung; Sauberkeit; Disziplin; Ehrlichkeit; Sparsamkeit und Zuverlässigkeit“. Für die Einhaltung war der Vater verantwortlich. Zusammen mit den preußischen Tugenden wie Pflichtgefühl, Gehorsam, Obrigkeitshörigkeit, Gottesfurcht und das Bemühen, jede Aufgabe mit aller Kraft zu lösen, galten sie zunächst nur für das Heer. Später wurden sie von der preußischen Gesellschaft übernommen. Es galt das Motto:
„Wer auf die preußische Fahne schwört, hat nichts, was ihm selber gehört.“
Ein idealer Nährboden für die Ideologie und Führerkultur des Nationalsozialismus in den 1930er Jahren.
Nach der Konfirmation verließ Wilhelm mit 16 Jahren das Elternhaus. Sein Berufswunsch stand fest: Er will die Seemannslaufbahn einschlagen. Nach ersten Schülerfahrten verschlug es ihn an die Navigationsschule in Lübeck. Dort machte er seinen Abschluss als „Steuermann auf große Fahrt“ und fuhr auf Kaufffahrtschiffen verschiedener Reedereien in Hamburg und Rotterdam.
Im Alter von 23 Jahren leistete er 1911/12 seinen einjährigen Militärdienst als Obermatrose auf dem Panzerkreuzer S.M.S. Blücher bei der I. Matrosendivision in Kiel. Anschließend kam es zu einem tragischen Ereignis, das sein Leben maßgeblich veränderte.
Der Unfall – wie der Traum vom Seemannsberuf zerplatzt
Ein schwerer und folgenreicher Unfall ereignete sich am 29. November 1913 auf der S.S. Lübeck bei der Fahrt von Rotterdam nach Narwik: Wilhelm hatte gerade Dienst an Deck. Beim Einholen einer Stahltrosse geriet diese außer Kontrolle und quetschte seinen linken Fuß ab. Notdürftig wurde er an Bord versorgt.
Aufgrund der Schwere der Verletzung entschied sich der Kapitän, den nächstgelegenen Hafen in Aaalesund anzulaufen. Dort kam der Schwerverletzte in das Krankenhaus und wurde dort die nächsten Wochen stationär behandelt – der Fuß musste amputiert werden. Die Konsequenz: Der Traum vom Kapitänspatent und Fahrt auf große See ist ausgeträumt.
Nach seiner Entlassung nach Kiel wurde ihm dort eine Unterschenkelprothese angepasst. Da er den Seemannsberuf nicht mehr ausüben konnte, entschied er sich für eine Verwaltungslaufbahn. In Lübeck machte er zunächst eine Umschulung im Handels-Lehrinstitut Grone (Juni bis November 1914). Weitere Stationen sind das Versicherungsamt in Lübeck, zunächst als Bürohilfsarbeiter, dann im Kreisausschuss in Ratzeburg (Juni 1917 bis Mai 1923) nach entsprechenden Abschlüssen als Landessekretär.
Der Erste Weltkrieg war keine Katastrophe, die plötzlich über Europa und die Welt hereinbrach, sondern kündigte sich schon Jahrzehnte vorher an. In seinen Ausmaßen und seinen Auswirkungen war er jedoch bis zu dieser Zeit beispiellos. Das Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914 ist zwar der Auslöser des Ersten Weltkriegs, nicht aber dessen Ursache. Den Weg von der Mordtat zum Massenmord gehen Europas Regierungen, voran der Deutsche Kaiser und dessen Kanzler, im Glauben an die Stärke und Unfehlbarkeit des Militärs und im Wahn, dass der Krieg nicht das Ende, sondern die Erlösung sei für eine bedrängte Nation. Am 31. Juli 1914 vier Uhr nachmittags meldeten die Zeitungen in Schleswig-Holstein: „Deutschland im Kriegszustand“.
Das ergreifende Moment der Mobilmachung Deutschlands und die patriotischen Begeisterungsstürme legten sich jedoch mit Fortdauer des Krieges. Weltweit zog man rund 70 Millionen Soldaten ein. In Deutschland wurden 13,5 Millionen Männer zum Wehrdienst eingezogen, mehr als in jedem anderen kriegführenden Staat (das entsprach 81 Prozent aller Männer im wehrpflichtigen Alter). Wilhelm Bewersdorff war nicht darunter, denn nach der Fußamputation galt er als Krüppel. 15 Prozent der Soldaten, mehr als zwei Millionen, starben, ein Drittel wurde verwundet.
Liebe in Zeiten einer Pandemie
In dieser Phase lernte Bewersdorff in Ratzeburg seine zukünftige Frau, Minna Voss, kennen. Minna wohnte in dieser Zeit noch im Elternhaus in der Kleinen Wallstraße 196. Ihr Vater war Senator und hatte ein Uhrmachergeschäft. Auch Minna arbeitete in Ratzeburg bei der Lauenburgischen Kommunalverwaltung (1913 bis 1918). Die Hochzeit fand am 16. November 1918 statt. Der Krieg war erst fünf Tage vorher beendet worden. Groß gefeiert wurde nicht, denn die Bevölkerung litt enorm unter den Auswirkungen des Krieges. Es gab ja fast nichts und die galoppierende Inflation sorgte dafür, dass das Geld stündlich an Wert verlor.
Die Trauung unmittelbar nach Kriegsende war daher ein Signal der Hoffnung und ein Neubeginn. Die Eltern von Minna und der Vater von Wilhelm waren schon verstorben. Das Ehepaar Bewersdorff lebte nun in St. Georgsberg in der Lübecker Straße, einem Vorort von Ratzeburg mit eigener Verwaltung. In dieser Phase stellte sich Nachwuchs ein. Am 6. Mai 1920 kam ein Mädchen zur Welt und wurde Gertrud genannt.
Die deutsche Bevölkerung litt im Krieg unter großer Nahrungsmittelknappheit und die wenigen Lebensmittel waren rationiert. Viele starben den Hungerstod und der Ausbruch der „Spanischen Grippe“ gegen Ende des Krieges wurde zu einer zusätzlichen Belastung. An dieser Pandemie starben weltweit zwischen 20 und 50 Millionen Menschen. Am 28. Oktober 1918 erfolgte in Bremerhaven und Kiel der Matrosenaufstand; am 8. November wurde in München der „Freistaat Bayern“ und in Kiel und Berlin wird versucht, eine Räterepublik auszurufen. Kaiser Wilhelm II. entsagte am 10. November 1918 dem Thron und floh vom Hauptquartier in Spa ins holländische Exil. Kanzler Philipp Scheidemann rief am gleichen Tag die Deutsche Republik aus. Am 11. November 1918 war der Krieg beendet. Im traumatisierten Deutschland begannen die gegenseitigen Schuldzuweisungen, wer die militärische Niederlage zu verantworten hat. Die „Dolchstoßlegende“ wurde geboren: „Das Heer wurde nie im Krieg besiegt, sondern am Verhandlungstisch.“ Der Vertrag von Versailles legte am 28. Juni 1919 unter anderem die Grundlagen für den Zweiten Weltkrieg.
Aufstand der Matrosen und Heizer
Paul Lamp´l, von 1925 bis 1933 mit Wilhelm Bewersdorff befreundet und zeitgleich in der Aumühler Kommunalpolitik aktiv, sowie Otto Becker, ab 16. Oktober 1920 Wilhelms Schwager, waren beide an den Aufständen beteiligt. Beide waren auch Seeleute und in der Kriegsmarine im Ersten Weltkrieg an der Schlacht von Skagerrak beteiligt. Nach der Kapitulation kämpften sie auf verschiedenen Seiten: Paul schloss sich der SPD an und kämpfte in Kiel mit den Aufständischen für eine Räterepublik, während Otto in der Reichswehr Ende 1918 in Bremen den Aufstand bekämpfte und später 1919 als Mitglied des Freikorps in Berlin den Aufstand blutig niederschlug. In der Nacht zum 15. Januar 1919 wurden die Führer des Spartakusbundes, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, verschleppt, im Berliner Hotel Eden von Mitgliedern des Freikorps gefoltert und daraufhin ermordet.
Nach dem ersten Weltkrieg und dem Verdikt von Versailles galten die handelnden Politiker als „Erfüllungsgehilfen“. Erfüllt werden müssen die im Versailler Vertrag festgelegten Reparationsforderungen der alliierten Siegermächte, was die Zahlung immenser Summen über Jahrzehnte bedeutete: insgesamt 132 Milliarden Goldmark. In republikfeindlichen Kreisen galt der damalige Außenminister der Regierung, Walter Rathenau, 1922 als „Inkarnation einer jüdisch-kapitalistischen Verschwörung“. Es waren jene – Beamte, Offiziere der geschrumpften Reichswehr, Pfarrer, Ärzte, der Mittelstand also – denen die Wirtschaftslage kurz nach dem Krieg finanziell allmählich den Boden unter den Füßen wegzog; ihr Blick war getrübt von der „Dolchstoßlegende“, von Antisemitismus, völkischem Denken und Hass auf die Demokratie. Einer, der sich mit der Republik von Anfang an nicht abfinden wollte, war der Pfarrerssohn und kaiserliche Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt. Anfang 1919 stellte er ein Freikorps aus ehemaligen Marineoffizieren in Bayern auf, das linke Aufstände und mit besonderer Brutalität die Münchner Räterepublik niederschlug. Im März 1920 war die „Brigade Ehrhardt“ am gegenrevolutionären Kapp-Lüttwitz-Putsch in Berlin beteiligt. Danach tauchte Ehrhardt mit seinen Anhängern in München unter und gründete die Organisation Consul (O.C.). Finanziert wurde die O.C. durch Industrielle und Republikfeinde in Bürgertum, Adel und Militär. Ihr Ziel war eine gewaltsame Änderung der politischen Verhältnisse.
Es folgten mehrere Attentate – unter anderem auf den Finanzminister Mathias Erzberger, der durch seine Unterschrift des Waffenstillstands von November 1918 für viele Deutsche zum Hauptfeind geworden war. Der Münchner Polizeipräsident Pölner selbst schützte jedoch die beiden Mörder und auch Ehrhardt. Das Attentat Anfang Juli 1922 auf den SPDler Philipp Scheidemann scheiterte am Dilettantismus der Attentäter. Am 26. Juni 1922 traf es Walter Rathenau. Die beiden Attentäter und jungen Weltkriegsoffiziere Kern und Fischer konnten zunächst entkommen.
Wie Wilhelm Bewersdorff nach Aumühle kam
Die eher ländliche Gemeinde Aumühle suchte 1922 einen Verwaltungsbeamten für neue Aufgaben, denn mit Erlass vom 19. Januar 1921 wurde die neue „Villenkolonie Sachsenwald-Hofriede“ aus der Waldfläche des Gutsbezirks Friedrichsruh aus- und bei der Gemeinde Aumühle-Billenkamp eingemeindet.
Die mit dieser Eingemeindung verbundene Mehrarbeit konnte von dem ehrenamtlichen Gemeindevorsteher (von Beruf Maurer) nicht geleistet werden, sodass die Gemeinde die Einstellung eines beamteten Gemeindesekretärs beschloss. Zunächst wurde ein Obersteuersekretär vom Finanzamt Ratzeburg mit dieser Aufgabe betraut in der Hoffnung, dass dieser die finanz- und steuerrechtlichen Belange der Gemeinde ordnet und löst. Als sich nach kurzer Zeit jedoch herausstellte, dass er nicht einmal in der Lage war, einfachste Verwaltungsangelegenheiten zu erledigen, erfolgte nach einer unangekündigten Revision die Entlassung durch den zuständigen Landrat.
Da fast ein Jahr lang keine Steuern erhoben wurden, ausstehende Rechnungen über den Bau des Ortsnetzes sowie aufwendige Reparaturen am Wasserwerk nicht beglichen wurden, war die Gemeinde faktisch pleite und hatte keine Einnahmen, sondern nur Schulden. Es gab keine Strukturen und keinen Verwaltungsapparat in der Gemeinde. Daher musste dringend Abhilfe durch die Anstellung eines kompetenten Verwaltungsbeamten geschaffen werden
Die politischen Zuständigkeiten lagen in dieser Zeit in der preußischen Hauptstadt Berlin (beim Fürsorgeamt!). Das dortige Amt beauftragte am 29. März 1923 den Bürgermeister der Stadt Montabaur, Herrn Mönig, die „verwahrloste Gemeinde bis Mitte Juli 1925 wieder in Ordnung zu bringen“. Da die Stadt Montabaur nicht allen bekannt sein dürfte, hier eine kurze Lagebeschreibung: Die Stadt liegt im Westerwald (im heutigen Bundesland Rheinland-Pfalz). Die Zuständigkeit ist aus heutiger Sicht nur mit der damaligen Staatenvielfalt und der Nachkriegsordnung von 1918 zu verstehen. Ein Blick auf eine Karte aus der Zeit der Weimarer Republik von 1918 bis 1933 macht deutlich, vor welchen Herausforderungen damals Politiker, Verwaltungen und Gemeindevorsteher standen. Vom Landrat wird Herr Mönig zum kommissarischen Gemeindevorsteher von Aumühle ernannt. Er lanciert daraufhin eine Stellenausschreibung in die Verwaltungen von Herzogtum Lauenburg und Hamburg für einen Verwaltungsbeamten zur sofortigen Besetzung, die kommissarische Tätigkeit endet für Mönig am 15. Juli 1923. Übrigens: Es fand sich im Aumühler Archiv kein Hinweis, dass er jemals in Aumühle gewesen ist. Von Stellenausschreibung erhält Wilhelm Bewersdorff im Kreisausschuss Ratzeburg Kenntnis und bewirbt sich.
Umzug von Ratzeburg/Georgsberg nach Aumühle
Als Wilhelm Bewersdorff die Stelle erhielt, zog er mit seiner Frau Minna und den beiden Töchtern Gertrud und Wilma im Juni 1923 nach Aumühle in die Gärtnerstraße 8. Im Jäckel´schen Haus in der Großen Straße 16 wurden Räumlichkeiten für das Gemeindebüro gemietet (heute Schlosserei Otto Villwock). Die Miete für den Monat Oktober betrug 10 Millionen Mark (inflationsbereinigt) und war an die Witwe von Otto Jäckel zu zahlen. Ich zitiere aus seinem ersten Tätigkeitsbericht aus dem Jahre 1924:
„Erste Priorität meiner Tätigkeit war die Sanierung der Finanzen, sowie der komplette Neuaufbau des Verwaltungsapparates. Mit Unterstützung einer weiblichen Hilfskraft wurde die gesamte Registratur und das Aktenwesen neu aufgezogen. Da ich auch für die Verwaltung des Licht- und Wasserwerkes zuständig war, mussten die Licht- und Wasserpreise monatlich neu kalkuliert und abgerechnet werden. Ferner musste ich die Kassengeschäfte des Gesamtschulverbandes Aumühle erledigen. Zu dieser Zeit ist Aumühle ein aufblühender Villenvorort von Hamburg mit etwa 1.200 Einwohnern.“
Wilhelm Bewersdorff
Ob der gescheiterte „Hitlerputsch“ vom 8. und 9. November 1923 in München für Wilhelm Bewersdorff oder die Einwohner aus Aumühle ein Thema war, ist nicht überliefert. Das Ziel des Umsturzversuchs durch den ehemaligen Gefreiten und politischen „Nobody“ Adolf Hitler war die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie und die Errichtung einer nationalsozialistischen Diktatur. Hitler stand zu dieser Zeit in Konkurrenz mit Gustav von Kahr (ehemaliger Ministerpräsident von Bayern) um die Führungsrolle im rechten Lager Bayerns. Der Stellvertreter von Kahr, Hubert von und zu Aufseß, drückte seine antisemitische und hasserfüllte Meinung am 20. Oktober 1923 wie folgt aus: „Es heißt für uns nicht: Los von Berlin! Wir sind keine Separatisten. Es heißt für uns: Auf nach Berlin! Wir sind seit zwei Monaten von Berlin in einer unerhörten Weise belogen worden. Das ist nicht anders zu erwarten von dieser Judenregierung, an deren Spitze ein Matratzeningenieur (Anm.: damit war Reichspräsident Friedrich Ebert gemeint) steht. Ich habe seinerzeit gesagt: In Berlin ist alles verebert und versaut, und ich halte das auch heute noch aufrecht.“
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erschütterte der Vertrag von Versailles mit als zu hart empfundenen Reparationen und Gebietsverlusten viele Deutsche. Hungersnot, Arbeitslosigkeit, Bettelei als einzige Existenzsicherung für verkrüppelte Kriegsheimkehrer prägten vielerorts das Straßenbild in den Städten; höchste Säuglingssterblichkeit in Europa; Rachitis-Epidemien durch Vitaminmangel.
Es war die Zeit, als die Preise in Deutschland nicht monatlich stiegen, auch nicht täglich, sondern stündlich. Am 31. Oktober 1923 kostete ein Dollar 72 Milliarden Mark. Einen Tag später war der Kurs schon auf 130 Milliarden Mark geklettert, am 2. November auf 320 Milliarden und am 3. November auf 420 Milliarden Mark. Papiergeld war im Prinzip wertlos geworden. Die Scheine wurden in Schubkarren, Kinder- und Leiterwagen transportiert und vor dem Bezahlen abgewogen. Dieser Katastrophenzustand dauerte anderthalb Jahre. Er ging einher mit wirtschaftlichem Chaos, gesellschaftlichen Verwerfungen und politischem Aufruhr, teils auch einem Verfall der Sitten, Gewalt und hemmungsloser Vergnügungssucht, vor allem in den großen Städten, zum Beispiel in „Babylon Berlin“. Millionen Menschen gerieten angesichts der Ohnmacht und des sozialen Abstiegs in Verzweiflung. Renten, Sparguthaben und Lebensversicherungen lösten sich in nichts auf. Wer dagegen Haus, Wald und Grund besaß oder hohe Schulden hatte, war im Vorteil. Großindustrielle zählten zu den Inflationsgewinnern. Auch wer über Devisen verfügte, führte ein besseres Leben. In Aumühle hatten sich seit 1900 viele betuchte Hamburger Kaufleute mit Hilfe von Emil Specht eine Villa erwoben und so entstand – für alle sichtbar – ein Klassenunterschied in Arm und Reich. Bauern konnten für Naturalien wie Eier, Mehl und Butter Tafelsilber, Schmuck oder Porzellan eintauschen. Ende November 1923 endete der Spuk. Die Regierung unter Gustav Stresemann, einer von drei Kanzlern in diesem Jahr, führte die Rentenmark ein, 1.000 000.000.000 Mark wurde in 1 Rentenmark getauscht. Die Menschen fassten wieder Vertrauen in die Rentenmark als Zwischenlösung. Die Hyperinflation wurde gebannt.
Wenn wir bedenken, wie sehr im Jahre 2023 eine über Monate anhaltende Inflation von mehr als zehn Prozent die Gesellschaft aufreibt, dann ist es nicht verwunderlich, das dieses Trauma auch heute noch in der älteren Generation mitschwingt. Dennoch ist diese Phase nicht zu vergleichen mit der heutigen Verunsicherung breiter Bevölkerungsschichten durch Corona, Kriege und Rechtspopulismus.
Vielleicht hat sich Wilhelm Bewersdorff an Ereignisse aus den Jahren 1919 bis 1920 in Kiel und Berlin erinnert. Er und seine Ehefrau waren zur Hochzeit seiner Schwester im Oktober 1920 in Berlin eingeladen. Berlin war in dieser Zeit Schauplatz wichtiger politischer Ereignisse: putschende Militärs, irrsinnige Inflation, hasserfüllt blutige Ausschreitungen. Der Ehemann seiner Schwester, Otto Becker, war Mitglied eben dieses Freikorps, welches den Spartakusaufstand ein Jahr vorher niedergeschlagen und die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin mit zu verantworten hatte. Die meisten dieser Freikorpsmitglieder schlossen sich später den Nationalsozialisten und deren Schlägertrupps (SA) an.
Der Kapp-Putsch durch putschende Offiziere und Generäle scheiterte jedoch im März 1920 unter anderem an einem unbefristeten Generalstreik der Gewerkschaften.
Auf der Hochzeitsfeier seiner Schwester versuchte sich Wilhelm Bewersdorff als Dichter und Redner. So brachte er in Reimen und Versen seine politische Einstellung zum Ausdruck:
18. Strophe: „Als Spartakus in wilder Wut
die Reichshauptstadt wollt ´ plündern
da kam mit stolzem Mannesmut
ein Trupp es zu verhindern.“
Erste Kandidatur für die Wahl zum Gemeindevorsteher 1924
Schon bei erster Gelegenheit trat Bewersdorff am 27. Mai 1924 bei der Wahl zum Gemeindevorsteher gegen den amtierenden Vorsteher Otto Hagen an, der dieses Amt erst seit 1923 ausübte. Die geheime Abstimmung verlor Wilhelm deutlich mit 3 : 7 Stimmen. In der Gemeindevertretung saßen auch Paul Lamp´l aus der Lindenstraße und Prof. Dr. phil. Bachmann aus der Bergstraße. Beide spielten noch im weiteren Verlauf der Geschichte eine wichtige Rolle im Leben von Wilhelm Bewersdorff.
Die Zusammenarbeit zwischen dem wiedergewählten Gemeindevorsteher und dem neuen Gemeindesekretär verlief konfliktträchtig. Es ging unter anderem um die Arbeitsverteilung und Zuständigkeiten (zum Beispiel: Wer schreibt jeweils die Protokolle der Gemeinderatssitzungen?). Schließlich ordnete Otto Hagen an, dass die Protokolle vom Gemeindesekretär geschrieben werden müssen. Dies erfolgte jeweils während der Sitzungen.
Zur Behebung der Wohnungsnot errichtete die „Baugesellschaft Aumühle“ 1924 auf einem von Fürst Bismarck erworbenen Gelände sechs Doppelhäuser. Die zwischen den Häusern angelegte Straße erhielt die Bezeichnung „Ernst-Anton-Straße“ nach den finanziell meistbeteiligten Gesellschaftern Ernst Schliemann und Anton Rodatz. 1925 betrug die Einwohnerzahl von Aumühle 1.455.
Die Phase von 1923 bis 1929 wird auch als die „Goldenen Zwanziger Jahre“ bezeichnet. Der Begriff veranschaulicht den Wirtschaftsaufschwung in vielen Industrieländern und steht auch für eine Blütezeit der deutschen Kunst, Kultur und Wissenschaft. Nicht nur im „Babylon Berlin“ wurden wilde Partys gefeiert, auch in Aumühle. Zuversicht und Lebensfreude zeichneten diese Phase aus: Es entstanden in den Städten Cafés, Theater und Varietés. Kinos und Stummfilme entwickelten sich zur Massenunterhaltung. Am 29. Oktober 1923 wurde der deutsche Rundfunk offiziell gestartet. Der erste Rundfunkteilnehmer zahlte einen Inflationspreis von 350 Milliarden Mark. 1927 wurde der Hindenburgdamm nach Sylt eröffnet; Deutschland wurde einstimmig in den Völkerbund aufgenommen. Das Auto entwickelte sich zum Lieblingsspielzeug, auch für deutsche Männer. Doch so plötzlich, wie sie begonnen hatten, waren die „Goldenen Zwanziger“ auch wieder zu Ende. Die Weltwirtschaftskrise stürzte die Weimarer Republik erneut in wilde Turbulenzen, da der Wirtschaftsaufschwung überwiegend auf „Pump“ in Höhe von 21 Milliarden Mark aufgebaut wurde in Form von Krediten – vor allem aus den USA. In München fand vom 26. Februar bis 1. April 1924 der Hitler-Ludendorff-Prozess wegen Hochverrats statt. Die eigentliche Zuständigkeit des Leipziger Reichsgerichts wurde bewusst ignoriert. Das Volksgericht München verurteilte Hitler im April 1924 nur zu fünf Jahren Festungshaft und einer Geldstrafe in Höhe von 200 Goldmark. Die Staatsanwaltschaft hatte acht Jahre Haft gefordert. Die NSDAP wurde vorerst verboten. Die obligatorische Ausweisung Hitlers nach Österreich wurde unter fadenscheinigen Gründen nicht angewandt. Viele politische Beobachter wunderten sich über die wohlwollende Verhandlungsführung des Richters und die milde Strafe. Das Urteil wurde in Fachkreisen als Justizskandal bewertet. Bereits im Dezember 1924 wurde Hitler wegen „guter Führung“ entlassen und am 27. Februar 1925 kam es zu einer Neugründung der NSDAP. Da der erste Reichspräsident, Friedrich Ebert, überraschend wegen einer verschleppten Bauchfell- und Blinddarmentzündung am 28. Februar 1925 gestorben war, musste ein neuer Präsident gewählt werden.
Bei der Wahl siegte Paul von Hindenburg am 29. März 1925 im ersten Wahlgang und blieb es bis zu seinem Tod am 2. August 1934. In der Weimarer Republik gab es in dieser Zeit breite antidemokratische und antirepublikanische Strömungen mit der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Im Kabinett Luther rückte sie im Januar 1925 ins Zentrum des politischen Systems.
Tanz auf dem Vulkan – auch in Aumühle
Das nachfolgende Kapitel beschreibt den Privatmann Wilhelm Bewersdorff. Festzeitschriften vom 40. Geburtstag am 10. Juli 1928 in der Gärtnerstraße sowie nach dem Einzug 1928 in die Straße Ellerhorst zum Jahreswechsel 1928/29 zeugen von ausgelassenen Feiern. Ein Koffergrammophon, eine umfangreiche Schellackplatten-Sammlung sowie ein großes Getränkeangebot sorgten für entsprechende Stimmung.
Zu den Gästen gehörten jeweils auch Paul Lamp´l und seine Frau Martha. Paul und Wilhelm waren beide zur See gefahren. Während Paul im Ersten Weltkrieg auf dem kleinen Kreuzer „Elbing“ im Juni 1916 an der Schlacht von Skagerrak teilgenommen hatte und im November 1918 am Matrosenaufstand in Kiel beteiligt war, absolvierte Wilhelm, nach seinem schweren Unfall auf dem Dampfer „Lübeck“ im November 1913, ein Umschulungsprogramm 1916 in Lübeck, um dann später in Ratzeburg in der Verwaltung zu arbeiten.
In Aumühle trafen sich die beiden dann spätestens 1923 in der Gemeindevertretung: Paul in der Funktion als Gemeindevertreter und Wilhelm zunächst als Gemeindesekretär, um dort die Protokolle zu schreiben. Die Seefahrt und die Gemeindepolitik waren die bestimmenden Themen bei ihren privaten Treffen, die regelmäßig in der Kneipe „Waldgrotte“ oder in den privaten Räumlichkeiten mit den Ehefrauen vertieft wurden.
1924 veranlasste die Gemeindevertretung, dass sich die Gemeindeverwaltung (bisher im Jäckel´schen Haus in der Großen Straße 16 ansässig) im Gebäude des E-Werkes in der Bergstraße 9 neue Büroräume einrichtet. Diese Räume wurden fortan vom Gemeindevorsteher Otto Hagen und dem Gemeindesekretär Wilhelm Bewersdorff genutzt. 1927 erwarb die Gemeinde aus dem Nachlass von Emil Specht (gestorben am 19. Juli 1926) den Bismarck-Turm mit dem angrenzenden Wärterhaus und dem Vorplatz für 20.000 Reichsmark. 1928 wurde dann das Ehrenmal für Emil Specht am Bismarck-Turm errichtet und feierlich eingeweiht.
Im Gebiet Ellerhorst, das die Gemeinde von der Familie Hackmack erworben hatte, entstanden 1928 die ersten Wohnhäuser. Die neue Straße erhält den Namen Ellerhorst. Bewersdorff wohnte zunächst weiterhin in der Gärtnerstraße, aber trug sich mit dem Gedanken umzuziehen und ein eigenes Haus im Gebiet Ellerhorst zu bauen, was er später auch machte. In der Gärtnerstraße wohnte er zur Miete mit weiteren Mietparteien. Hier kam es des öfteren zu Nachbarschaftsstreitigkeiten wegen Lärmbelästigung, da so manche Feier in der „Waldgrotte“ nach Thekenschluss in seiner Wohnung fortgesetzt wurde. Diese lag nur ca. 100 Meter Luftlinie von der Kneipe entfernt und war selbst im alkoholisierten Zustand und auch mit Wilhelms Behinderung (er trug seit seinem Schiffsunfall im Jahre 1913 eine Beinprothese) noch gut und unfallfrei zu erreichen. Allerdings litt die Garderobe manchmal unter den widrigen Umständen, da die Gärtnerstraße in der damaligen Zeit aus einer Mischung aus Bauschutt und Lehm befestigt war. Bei Regenwetter und im Winter war die Straße nur schwer zu begehen und entsprechend sahen dann Schuhe und Kleidung aus.
In der Ellerhorst 1 wurde 1932 das Landjägerhaus fertiggestellt. Oberlandjäger Paulsen zog als erster Bewohner in das neue Haus. Er wurde 1937 von Hauptwachtmeister Willy Rink abgelöst. Heute wohnt hier seit 1975 Dieter Giese. Er leitete vom 1. Oktober 1975 bis zum Altersruhestand im August 1998 die Polizeistation in der Großen Straße. Und er ist der am längsten amtierende ehrenamtliche Bürgermeister von Aumühle (2000 bis 2018).
Umzug und schon gab es Ärger: ein Nachbar klagte
Die Familie Bewersdorff zog 1929 um, in ein neu gebautes Haus mit Erker – der aber sogleich zu Ärger führte. Im Kreisausschuss Ratzeburg ging am 17. April 1929 eine Klage des Amtsvorstehers Titze aus Friedrichsruh ein. Darin wurde mit polizeilicher Verfügung der Rückbau des Erkers angeordnet. Der Beschwerdeführer war Friedrich Bohlen, ein Nachbar und der ehemalige Chauffeur von Emil Specht.
Er hatte sich an den Gemeindevorsteher Otto Hagen in Aumühle gewandt und bemängelt, dass die Bauvorschriften beim Bau des Bewersdorffschen Hauses nicht eingehalten wurden. Konkret ging es um den Abstand des Hauses – hier Erker – zur öffentlichen Straße, der statt der vorgeschriebenen 6 nur 5,10 Meter beträgt. Somit verstößt der Bau um 90 Zentimeter gegen die Baufluchtlinie.
Der Nachbar begründete seine Forderung auf Schadenersatz in Höhe von 4.700 Reichsmark oder die Beseitigung des Erkers mit dem Hinweis, dass ihm durch den Erker die Sicht Richtung Bille versperrt wird.
In einer dreiseitigen Gegenklage führte Bewersdorff unter anderem folgende Gründe an:
„Da weder eine Mauer in 2 m Höhe, noch eine Hecke oder Tannen gepflanzt werden sollen, und damit dem Beschwerdeführer die ganze Sicht genommen wäre, ist weder eine Schadenersatzforderung oder aber die Forderung nach Beseitigung des Erkers berechtigt.“
Wilhelm Bewersdorff
Am 23. Mai 1929 teilte der Amtsvorsteher Titze Wilhelm folgendes mit:
„Hierdurch wird Ihnen zu der Ausführung des Erkerausbaues an Ihrem Wohnhaus nach der öffentlichen Straße, welcher die Baufluchtlinie um 0,90cm überschreitet, nachträglich die Dispenz 1) erteilt. Gez. Titze“
Hoheitliche Ausnahmegenehmigung; Befreiung von Verbot/Gebot
Das Restaurant Waldgrotte in der Großen Straße (heute Penny)
In der Festschrift zum 40. Geburtstag von Wilhelm Bewersdorff heißt es:
„Kennst du das Haus? (gemeint ist die Gärtnerstraße 8) Man weiß es
weit und breit. Gab´s doch um ihn so manchen Mieterstreit
Es steht, gar manche haben´s oft und gern gelernt –
von Schumacher´s Waldgrotte nicht weit entfernt!!!!
Das Restaurant und Tanzlokal „Waldgrotte“ war über die Grenzen hinweg bekannt und beliebt. Vereine und später in den 1930er Jahren auch die NSDAP buchten beim Gastwirtsehepaar Hertha und Willi Schumacher die Räumlichkeiten. Hier fand am 6. März 1920 auch die Gründungsversammlung des TuS Aumühle statt. Es gab Tanzveranstaltungen mit über 700 Personen. Hier wurden so manche Ehen angebahnt, aber auch Trennungen vor Publikum. „Wichtige“ kommunal- und parteipolitische Entscheidungen wurden hier vertraulich vorbereitet beziehungsweise gefeiert. 1981/82 wurde die „Waldgrotte“, die auf dem Gebiet von Wohltorf liegt, abgerissen. Es erfolgte der Bau eines „Penny“-Marktes. Wer sich für die Geschäfte und Dienstleister in Aumühle aus dem Jahre 1928 interessiert, findet hier einen eigenen Beitrag dazu.
Viele Menschen verloren erneut ihr Vermögen und/oder den Arbeitsplatz. Hauptauslöser war das Platzen einer Spekulationsblase am 25. Oktober 1929 an der Börse in New York. Firmenzusammenbrüche, Bankenschließungen und Massenarbeitslosigkeit waren die Folgen, weil die für die deutsche Wirtschaft so dringend benötigten ausländischen Kredite abgezogen wurden. Binnen weniger Jahre veränderten sich die Lebenssituation der Menschen und die politische Stimmungslage im Land fundamental. Die gerade noch prall gefüllten Kinos, Sportstätten und Lokale waren plötzlich menschenleer. In Deutschland stieg die Zahl der Erwerbslosen zwischen September 1929 und Anfang 1933 von 1,3 auf über 6 Millionen (= 16,3 Prozent der Gesamtbevölkerung). Armut und Kriminalität nahmen sprunghaft zu. In dieser Krisenzeit befielen soziales Elend, Existenzängste und Verzweiflung viele Menschen. Der ideale Nährboden für extreme Parteien wie NSDAP und KPD. Sie heimsten den politischen Gewinn ein: Während bei der Wahl zum 5. Deutschen Reichstag am 14. September 1930 die NSDAP erstmals zweitstärkste Kraft wurde und die Zahl ihrer Mandate von 12 auf 107 erhöhte, steigerte sie bei der nächsten Wahl im Juli 1932 nochmals ihre Stimmengewinne enorm, so dass am 30. Januar 1933 Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte.
Bewersdorff wird Bürgermeister von Aumühle
Ich gehe davon aus, dass Wilhelm zielstrebig darauf hingearbeitet hatte, Bürgermeister von Aumühle zu werden. Aufgrund seiner vielseitigen Kenntnisse der Aumühler Verwaltungsstrukturen, der Geldflüsse und der entscheidenden Machtstrukturen in der Gemeinde hatte er einen Vorteil gegenüber anderen Kandidaten. Aber auch die guten und alten Kontakte nach Ratzeburg wusste er bei Bedarf zu nutzen.
Leichte Rückschläge saß er aus, wie bei der Kandidatur am 27. Mai 1924 zum Gemeindevorsteher, als er gegen den amtierenden Gemeindevertreter Otto Hagen verlor, ebenso die Wahl am 19. Dezember 1929 zum stellvertretenden Gemeindevorsteher gegen Prof. Dr. Bachmann.
Bei der Gemeindewahl am 19. Dezember 1929 hatte auch Wilhelm Bewersdorff wieder kandidiert und war in die Gemeindevertretung gewählt worden. Der Gemeindevertretung gehörten folgende 14 Mitglieder an:
Gemeindevorsteher (GV): Otto Hagen
Stellv. GV: Stelle war vakant, da Herr Hackmack ausgeschieden war (8.11.1926 – 1928)
Für die ausgeschiedenen Mitglieder Detjens und Kehrhahn waren am 28.10.1927 die Herren Vivanco, Heyne, sowie Herr W. Brandt nachnominiert worden.
Folgende Mitglieder wurden bestätigt:
Die Herren Trapp; Gammelin; Lamp´l (SPD); Möller (SPD); J. Richardt; Prof. Dr. Bachmann.
Neu gewählte Mitglieder:
A.Bargun jr., H. Plambeck; W. Bewersdorff; Herr Titze, Herr Mertz (bis 1930)
Für die Wahl zum stellv. Gemeindevorsteher kandidieren:
Prof. Dr. Bachmann (7 Stimmen) und Wilhelm Bewersdorff (5 Stimmen).
Somit wird Prof. Dr. Bachmann zum stellv. Gemeindevorsteher gewählt.
Auch, als sein Antrag auf eine höhere Besoldung als Gemeindesekretär am 2. Oktober 1931 abgelehnt wurde, blieb Bewersdorff weiter dran und wartete auf die nächste Gelegenheit, um erster hauptamtlicher Bürgermeister zu werden. Diese Gelegenheit kommt nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 23. März 1933. Sein Eintritt in die Partei der NSDAP nach deren Machtübernahme erfolgte in erster Linie aus opportunistischen Gründen. Seine Frau Minna trat ebenfalls in die Partei ein. Sie fühlte sich von Hitlers Image als Verantwortungsträger angezogen und seiner vermeintlichen Wertschätzung der Frauen in ihrer Rolle als Mutter. Beide gehörten somit zu den so genannten „Märzgefallenen“, weil sie sich aus der Sicht von Adolf Hitler schnell auf die Seite des „Gewinners“ geschlagen hatten – wie so viele andere auch.
Bei der Kommunalwahl, die mit der Reichstagswahl im März 1933 gekoppelt war, wird Bewersdorff wieder in die Gemeindevertretung gewählt. In der Kampfabstimmung gegen den amtierenden Gemeindevorsteher Otto Hagen (NSDAP-Mitglied) gewann er nun überraschend deutlich mit 8:2, bei einer Enthaltung und einer ungültigen Stimme. Entschuldigt fehlte bei dieser wichtigen Sitzung Bankdirektor C. Trapp (NSDAP). Überschattet wurde diese Sitzung am 12. April 1933 von dem Rücktritt von Paul Lamp´l. Er nahm sein Mandat nicht an, weil er – aufgrund der Progromstimmung durch die Nazis gegen politisch Andersdenkende – Repressalien gegen sich als SPD-Mitglied und gegen seine Familie befürchtete. Auch sein Kreistagsmandat in Ratzeburg trat er nicht an.
Zwar wurde in Aumühle der Sozialdemokrat Hans Möller vor Eintritt in die Tagesordnung als Nachfolger von Paul Lamp´l in sein Amt eingeführt, aber als die SPD am 22. Juni 1933 vom Reichsminister des Inneren, Hermann Göring, verboten wurde – es waren gerade einmal drei Monate nach dem Ermächtigungsgesetz durch die Nazis vergangen – wurden sämtliche Mitglieder der SPD, die noch Volks- oder Gemeindevertretungen angehören, von der weiteren Ausübung ihrer Mandate sofort ausgeschlossen.
Etwa die Hälfte der Gemeindevertreter hatte zu diesem Zeitpunkt die NSDAP-Mitgliedschaft.
Im Vorfeld der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 gab es bürgerkriegsähnliche Zustände mit über 300 Toten und über 1.100 Verletzten, woran die SA (Sturmabteilung der NSDAP) maßgeblich beteiligt war. Am 22. Februar 1933 gründete der kommissarische preußische Innenminister, Hermann Göring, die Hilfspolizei. Sie rekrutierte sich vornehmlich aus den Reihen der SA, die damit in den staatlichen Machtapparat eingebunden wurde. Die SA konnte nun mit staatlicher Autorität und umfassenden Zuständigkeiten operieren. Der Innenminister baute die politische Polizei zur „Geheimen Staatspolizei (GeStaPo) aus. Die Verordnung zum „Schutz von Volk und Staat“ setzte am 28. Februar 1933 wesentliche Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft: die Freiheit der Person, die Unverletzbarkeit der Wohnung, das Post- und Telefongeheimnis, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, das Vereinigungsrecht sowie die Gewährleistung des Eigentums.
Die ersten Verhaftungen erfolgten auf dieser neuen gesetzlichen Grundlage schon in den Morgenstunden des 28. Februar 1933. In den folgenden Tagen wurden allein in Preußen (dazu gehörte die Stadt Berlin) rund 5.000 Menschen, in erster Linie Kommunisten und SPD´ler, festgenommen und interniert. Die SA verfolgte die „Roten“ und verschleppte Angehörige der Arbeiterparteien und Gewerkschaften in Schulen, Kasernen, Keller und Parteilokale, wo sie teilweise geschlagen, gefoltert oder ermordet wurden. In rasanter Dynamik und einem geschickten Spiel mit Gemeinschaftsversprechen und Inklusionsangeboten auf der einen sowie radikaler Exklusion, Terror und Verfolgung auf der anderen Seite gelang es den Nazis, die republikanische Verfassungsordnung, auch wenn sie formal erhalten blieb, auszusetzen und eine auf Volk, Rasse und Führer gegründete Diktatur zu erreichen, die sich der Zustimmung einer großen Mehrheit der Deutschen sicher sein konnte.
Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 feierte die SA in Berlin mit einem nächtlichen Fackelzug. SA-Trupps organisierten danach auf eigene Faust Hausdurchsuchungen und Verhaftungen. Sie verbreiteten in der Bevölkerung, besonders aber bei den Gegnern der NSDAP, ein Gefühl der Bedrohung.
Die SA wurde von der NSDAP bevorzugt als Ordnungsdienst eingesetzt bei Massenveranstaltungen und galt als reine Schlägertruppe gegen linksgerichtete Parteien (SPD und KPD), Gewerkschafter, sie griff aber auch Juden und christliche Gruppierungen wie die Kolping-Jugendlichen an. Als brutale Straßenkämpfer waren sie gefürchtet und erhielten ab 1. Mai 1933 Zulauf von der KPD und dem Rotfrontkämpferbund, sowie von NSDAP-Parteimitgliedern, nachdem die Aufnahmesperre aufgehoben wurde.
Die „Reichstagsbrandverordnung“ wurde unmittelbar nach dem Reichstagsbrand in der Nacht auf den 28. Februar 1933 erlassen. Damit wurden die Grundrechte der Weimarer Verfassung praktisch außer Kraft gesetzt und die Verfolgung politischer Gegner der NSDAP durch Polizei und SA legalisiert, die gleich nach der Machtergreifung in großem Umfang begonnen hatte. Zwischen März und Herbst 1933 nahm die SA hemmungslos Rache an politischen Gegnern und ideologischen Feinden. Schätzungen sprechen von rund 50.000 Häftlingen in eigenen, zum Teil „wilden Konzentrationslagern“.
Der Deutsche Reichstag, der wegen des Reichstagsbrandes in der Kroll-Oper stattfand, übertrug am 24. März 1933 die gesetzgebende Gewalt mit dem Ermächtigungsgesetz de facto vollständig auf die neue Reichsregierung unter Adolf Hitler. Die für eine demokratische Staatsordnung konstituierende Gewaltenteilung sollte mit einem neuen Gesetz aufgehoben werden und somit die Grundlage für die nationalsozialistische Diktatur bilden. Es erhielt den Namen „Gesetz zur Behebung von Not von Volk und Reich“.
Die Koalition aus NSDAP und DNVP (Deutsch-Nationale Volks-Partei) hatte seit den Wahlen vom 5. März 1933 „nur“ eine absolute Mehrheit, aber nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Es war absehbar, dass die Abgeordneten der SPD dem Gesetz nicht zustimmen würden und da die Abgeordneten der KPD wegen Flucht oder Verhaftung nicht erscheinen konnten, war die für ein verfassungsänderndes Gesetz nötige Zweidrittelmehrheit gefährdet. Zusammen verfügten SPD und KPD über 201 Stimmen.
Die alte Geschäftsordnung des Reichstages wird mit Füßen getreten und dann manipuliert: Unter den Augen illegal anwesender bewaffneter und uniformierter SA- und SS-Männer in der Kroll-Oper wurde die Geschäftsordnung von den NSDAP- Abgeordneten und denen des konservativen Zentrums dahingehend abgeändert, wonach unentschuldigt fehlende Abgeordnete formal als „anwesend“ galten.
Auch hatte es Hitler geschafft, die bürgerlichen Parteien durch vorangegangene Verhandlungen am 20. März auf seine Seite zu ziehen. Hinzu kam die wirksame Drohkulisse durch SA und SS während der Wahl. Die durch Verhaftung, Untertauchen und Flucht bedingte Abwesenheit der KPD-Abgeordneten erhöhte den Druck auf die bürgerlichen Parlamentarier, so dass mit 444 Stimmen aus dem Lager der NSDAP, sowie sieben weiterer Parteien das Ermächtigungsgesetz mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen wurde. Für die SPD-Fraktion begründete der SPD-Vorsitzende Otto Wels die strikte Ablehnung der Gesetzesvorlage. Er sprach damit die letzten freien Worte im Deutschen Reichstag. Alle anwesenden 94 SPD-Mitglieder stimmten gegen das Gesetz. 26 Abgeordnete der SPD waren bis dahin schon inhaftiert oder vor der Verhaftung geflohen. Der Kernsatz aus der Rede: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“
Nach den Wahlen zum neuen Reichstag am 5. März 1933 kam die NSDAP, trotz massiver Propaganda nicht auf eine absolute Mehrheit. Dabei hatte sie versprochen, die sozialen Konflikte zu beenden, keine Klassenkämpfe zu führen, die Standesunterschiede und die Pressefreiheit aufzuheben und nach dem Motto zu regieren „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“. Mit 288 von 647 Mandaten und 43,3 Prozent blieb sie zwar stärkste Partei, aber sie konnte sich nur mit Zuziehung der rechtskonservativen Front Schwarz-Weiß-Rot auf eine knappe Mehrheit von 52 Prozent berufen. Die Kernwähler von Zentrum, SPD und KPD waren ihren Parteien selbst in dieser Drucksituation noch treu geblieben. Allerdings wurden die Mandate der Kommunisten wegen der Schuldzuweisung für den Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 sofort gelöscht. Der Reichstag trat dann nur mit 566 Abgeordneten zusammen. Für das „Ermächtigungsgesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ benötigte die NSDAP eine Zweidrittelmehrheit. Die fehlenden Stimmen erhielt sie dann von der katholischen Zentrumspartei, die damit den Schlüssel zur Selbstentmachtung des Parlaments an die Nazis aushändigte. Deren Abgeordnete glaubten, durch Zustimmung ihre Organisation retten zu können. Zudem drängte der Vatikan darauf, das Konkordat mit dem Reich nicht zu gefährden. Innerhalb kürzester Zeit ergriffen die Nazis daraufhin mit rasanter Dynamik die Macht und ebneten den Weg in eine Diktatur. Einige der wichtigsten Gesetze aus dem Jahre 1933 habe ich hier aufgeführt:
31.03.1933: 1. Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich. Die kommunale Selbstverwaltung und die Landtage wurden aufgelöst. Im Ergebnis bedeutete dies, dass alle Regierungen von der NSDAP und der DNVP gestellt wurden.
01.04.: Erste Boykottaktionen und körperliche Übergriffe gegen Juden.
02.05.: Zerschlagung der Gewerkschaften.
10.05.: Erste Bücherverbrennungen.
22.06.: Betätigungsverbot für die SPD „als staats- und volksfeindliche“ Partei
27.06.: „Selbstauflösung“ der übrigen Parteien.
14.07.: Gesetz gegen die Neubildung von Parteien. Es durften danach nur Mitglieder der NSDAP wählen und einige Parteilose, die als „Gäste“ bezeichnet wurden.
23.07.: Neuwahlen der Kirchenvorstände (KV) in den Kirchengemeinden mit der Auflage, dass mindestens die Hälfte der KV genehme Mitglieder der NSDAP oder selber dieser Partei angehören mussten (zum Beispiel die „Deutschen Christen“)
12.11.: Austritt aus dem Völkerbund.
Am 15. September 1933 fand im Hotel „Stappenbeck“ in Lauenburg der Kreisparteitag der NSDAP statt, an dem auch Wilhelm Bewersdorff teilnahm. Der NSDAP-Kreisleiter war Hans Gewecke, der mit 22 Jahren am 1. Juli 1928 in die Partei eintgetreten war (Partei-Nr.: 94.286). Er gründete eine Ortsgruppe in Reinbek und wurde 1929 deren Leiter. Gewecke entwickelte sich zu einem gefragten Redner, wurde erst Kreis-, dann Gau- und schließlich Reichsredner der NSDAP. Er scheiterte zwar mehrfach im Zivilleben, profilierte sich aber als fanatischer Propagandist und geifernder Antisemit. Bereits 1931 wurde Gewecke hauptamtlicher NSDAP-Kreisleiter im Herzogtum. Diese Position behielt er bis Kriegsende 1945. Mit der Reichstagswahl im März 1933 zog er für die NSDAP in den Reichstag, dem er bis 1945 angehörte.
Im Oktober 1933 stellte Gewecke fest, „dass die Zeitungen des Kreises dem nationalsozialistischen Staat und seinen Führern treue Gefolgschaft leisten.“ Gegen Juden gingen die Nazis mit der „nötigen Intensität und nationalsozialistischer Härte“ vor, um die „endgültige Lösung der Judenfrage“ zu erreichen. In Litauen beteiligt er sich später persönlich an Selektionen und Hinrichtungen.
Die unmittelbaren Auswirkungen des Ermächtigungsgesetzes und deren Umsetzung auf das Gemeinwesen, das Vereinsleben und die Gemeindepolitik in Aumühle:
- Vom 9. Mai 1933 bis 9. Dezember 1934 war Bewersdorff zunächst „Kommissarischer Gemeindevorsteher“. Am 10. Dezember 1934 erhielt er den Titel „Gemeindeschulze“ und am 15. April 1935 wurde er offiziell erster hauptamtlicher Bürgermeister von Aumühle. Er hatte endlich sein Ziel erreicht, aber auf Kosten einer Freundschaft zu Paul Lamp´l. Der Machtkampf mit Otto Hagen endete mit einer Entscheidung des Landrates in Ratzeburg, der Hagen von allen Ämtern entband und die dessen weitere Teilnahme an Ausschusssitzungen untersagte.
- Am 4. April 1933 trat die neu gewählte Aumühler Gemeindevertretung das erste Mal zusammen.
- Als am 22. Juni 1933 die SPD durch den Reichsminister des Inneren, Hermann Göring, verboten wurde, erfolgte schon am 28. Juni 1933 durch den kommissarischen Gemeindevorsteher Aumühles, Wilhelm Bewersdorff, folgende Anweisung:
„1. Herrn Hans Möller, hier: Aufgrund es Runderlasses des Herrn Minister des Innern vom 23. Juni 1933 betr. Betätigungsverbot gegen die SPD schließe ich Sie mit sofortiger Wirkung von der weiteren Ausübung Ihres Mandats in der hiesigen Gemeindevertretung sowie in den Kommissionen aus.
Wilhelm Bewersdorff
2. zu den Akten. Fürsorgeausschuss: Franke, Krause, v. Gaza, Bargun, Peemöller. In den Fürsorgeausschuss wird an Stelle des Herrn Möller Herr v. Gaza gewählt.“
Auswirkungen auf den Sportverein Aumühle
Die Reichsführung drängte zunehmend auf die Ausübung des Wehrsports, und so nahm die Zahl der Jugendlichen bei den Turnabenden ab, weil sie mehr und mehr in das Jungvolk und in die Hitlerjugend (HJ) abgezogen wurden. Das erste Opfer in Aumühle war der Spielmannszug. Als 1933 der Tambourmajor Hermann Tönnies zum wiederholten Male von der NSDAP aufgefordert wurde, mit seinen Trommlern und Pfeifern der Sturmabteilung (SA) der NSDAP beizutreten, lehnte er dies ab. Alle Spieler schlossen sich daraufhin seiner Entscheidung an und legten ihre Instrumente nieder. Auch der Spielbetrieb wurde zunehmend in Mitleidenschaft gezogen. Zwar fanden sonntags noch Fußball- und Handballspiele auf dem alten Sportplatz („Hammelsberg“) bei der jetzigen Bismarck-Quelle statt, doch ab 1936 zeichnete sich eine rückläufige Entwicklung ab. Der Sportbetrieb kam mit Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 bis zur Neugründung des TuS am 22. Juni 1948 völlig zum Erliegen.
Auswirkungen auf das kirchliche Leben in Aumühle
Bis 1927 wurden die Gemeinden Aumühle – Friedrichsruh – Wohltorf von Pastor Karl Giesecke (geb. 11. Mai 1874, gest. 5. Februar 1960) betreut. Im gemeinsamen Kirchenvorstand gab es in den 1930er Jahren Streit über die Glaubensrichtung: Deutsche Christen gegen Bekennende Kirche oder keine von beiden. Pastor Giesecke, nationalkonservativ eingestellt, war eher ein glühender Verehrer von Bismarck, denn er predigte gern in der Gruftkapelle der Familie Bismarck in Friedrichsruh, da es bis 1930 keine Kirche in Aumühle gab. Da der weite Fussweg nach Brunstorf oder Friedrichsruh jedoch viele interessierte Christen vom Gottesdienstbesuch abhielt, gab es schon länger einen Plan, in Aumühle eine Kirche zu bauen. Pastor Giesecke sammelte dafür erfolgreich Spenden, sodass die Kircheneinweihung am 30. Juli 1930 erfolgen konnte, aber ohne die Wohltorfer, denn diese waren eher Anhänger der Bekennenden Kirche (BK), sodass es zur Abtrennung von den Aumühlern kam. Die Wohltorfer fanden in Pastor Reinhard Schröder einen engagierten und charismatischen Vertreter der BK.
Die NSDAP verfolgte eine Doppelstrategie, um die Kirchen zu vereinnahmen. Einerseits erklärte sie das „positive Christentum“ zur Volksreligion aller Deutschen und ordnete es andererseits dem Rassismus und Nationalsozialismus unter. Ziel war, das Christentum langfristig aufzulösen und durch ein Neuheidentum zu ersetzen. Auch in Aumühle wurde der Kirchenvorstand (KV) am 23. Juli 1933 gezwungen, sich aufzulösen. Die Hälfte des neuen KV musste dann mit Deutschen Christen (DC) oder ihnen genehme Personen besetzt werden. Die DC waren eine rassistische, antisemitistische und am Führerprinzip orientierte Strömung im deutschen Protestantismus, die diesen an die Ideologie des Nationalsozialismus angleichen wollte.
Die Bekennende Kirche (BK) war eine Oppositionsbewegung evangelischer Christen und gegen eine Gleichschaltung von Lehre und Organisation der Deutschen Kirche (DEK) mit dem Nationalsozialismus. Es kam zur Spaltung. Dietrich Bonhoeffer (1906 bis 1945) war ein profilierter Vertreter der BK und am Widerstand gegen die Nazis beteiligt. Am 9. April 1945 wurde er im KZ Flossenbrück erhängt.
Pastor Giesecke äußert sich zur kirchlichen Situation in der Nazizeit wie folgt:
„Ich hatte mir doch erhofft, dass es durch eine Partei, die etwas tut und wirklich Neues machen will, eine Belebung des kirchlichen Lebens gibt. Was ist eingetreten? In Aumühle genau das Gegenteil. Jetzt hatten wir gar nichts mehr. Jetzt fing der Bürgermeister an, eigene Hochzeitsrituale auszurichten, die NS-Frauenschaft machte eine Weihnachtsfeier mit umgedichteten Weihnachtsliedern, ein Sonnenwendfest (jeweils 21.06. am Denkmal). Die Jugend machte eine eigene Weihnachtsfeier, angeführt von Hitlerjugend und SA. Und in der Kirche sitzen ein paar alte Leute. 1938/39 fielen manchmal Gottesdienste aus, weil nur 2 oder 3 Besucher da waren.“
Pastor Karl Giesecke
Mit Kriegsausbruch am 1. September 1939 wurden auch die jungen Pastoren eingezogen, auch Pastor Schröder aus Wohltorf. Pastor Giesecke musste in dieser Zeit vier Gemeinden verwalten (Aumühle, Brunsbek, Schwarzenbek und Wohltorf). 1945 lag die Kirchenarbeit total danieder und musste wieder neu aufgebaut werden.
Volksweihnacht – „Heil-Lujah“
Die Volksweihnacht wurde im Saal der „Waldgrotte“ an der Großen Straße in Wohltorf/Aumühle gefeiert und war eine ernsthafte Konkurrenz für die evangelische Kirche. Anstelle von Jesu Christi sollte Adolf Hitler die Rolle des Welt-Erlösers und Messias übernehmen. Der Nazi Weihnachtskult verband patriotische, jugendbewegte und völkische Weihnachtsmusik, sowie übersteigerte Mütter- und Heldenglorifizierung. Während des Zweiten Weltkrieges vereinnahmte die NSDAP das Fest für die Kriegspropaganda:
- Versand von Feldpostpäckchen, die vorher unter einem geschmückten Tannenbaum drapiert waren;
- Ausrichtung auf Helden- und Totenverehrung;
- Nazigedankengut und NS-Sprache in Verknüpfung mit christlicher Sprache und sakralen Elementen;
- Ein „nationalsozialistisches Glaubensbekenntnis“ und statt „Amen“: „Heil Hitler!“
Gezielt wurden im Frühjahr 1933 politische Gegner der Nazis verfolgt, in erste Konzentrationslager eingesperrt, gefoltert und getötet. Die treibende Kraft hinter den frühen Konzentrationslagern der Nazis waren die Sturmabteilung (SA). Infolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 war sie zu einer Massenorganisation angewachsen. Ein kleinerer Teil der Männer stammte aus der Arbeiterschaft, den größeren Teil machten verarmte Mittelschichtler aus. Im Sommer 1933 waren es schon mehr als 400.000 Mitglieder. In den Monaten vor der Machtergreifung bekämpften sie vor allem die Linke, die man als wichtigste Konkurrenz sah. Zusammen mit SS und Polizei ging man gegen linke Parteien vor. In der Wahlnacht stürmten SA-Trupps Rathäuser, besetzten linke Parteigebäude und Zeitungshäuser. Dort plünderten sie, verprügelten und ermordeten politische Gegner. In den Wochen nach der Wahl arbeitete die SA Listen mit Gegnern ab. Der öffentliche Terror war gewollt, um andere Menschen und Gegner einzuschüchtern. Nach der erfolgreichen Machtübernahme versuchte die NS-Spitze nun, die SA-Schlägertrupps zu bremsen, in Hitlers Worten: „Man muss den frei gewordenen Strom der Revolution in das sichere Bett der Evolution hinüberleiten.“ Die Nazis hatten nunmehr den Staatsapparat weitgehend übernommen und konnten auf die Hilfspolizei mit den „undisziplinierten Braunhemden“ verzichten.
Weil ihm die SA mit dem – homosexuellen – Chef Ernst Röhm zu mächtig geworden war, ließ Hitler ihn 1934 ermorden und die SA von der SS entmachten. Fortan übernahm die SS mit Heinrich Himmler die Kontrolle über die Haft- und Konzentrationslager.
Die Juden stellten für die Nazis den Hauptfeind der „arischen Rasse“ dar. Sie erklärten diese zu einer eigenen Rasse und unterstellten ihr, einen schändlichen Einfluss auf die Qualität der „arischen Rasse“ zu haben. Daher müsse sie vernichtet werden. Das Ziel der Nazis war es zunächst, das deutsche Volk von einer angeblichen Bedrohung durch die Juden zu überzeugen. Dazu betrieben sie eine gezielte und umfassende Propaganda: Der „Arier“ war der Prototyp und das Idealbild der Nazis: blond, blauäugig, tatkräftig und treu. Im ganzen Reich wurden massenhaft Propagandaplakate und Faltblätter mit den „12 Geboten zur Rassenreinhaltung“ plakatiert und verteilt. Auch im Schulunterricht hielt diese Ideologie ab 1933 Einzug im sogenannten „Rasseatlas“ und dem „Rasseunterricht“. Um das Volk vor Juden zu „schützen“, erließen die Nazis von 1933 bis 1942 mehr als 2.000 antijüdische Gesetze. Zu den wichtigsten zählten die so genannten Nürnberger Gesetze, sie traten am 15. September 1935 in Kraft. Danach war „Ariern“ verboten, Juden zu heiraten. Deutsche Brautpaare mussten einen Ahnenpass vorlegen. Diesen erhielten sie nur, wenn sie ihre „arische Abstammung“ über mehrere Generationen nachweisen konnten. Als Jude galt,
wer mindestens drei jüdische Großeltern hatte; wer zwei jüdische Großeltern hatte und nach dem Erlass des Gesetzes jüdischen Glaubens war, mit einem Juden verheiratet war oder ein jüdisches Elternteil hatte.
In dem Nachlass der Familie Bewersdorff fand sich auch ein Schulheft der jüngsten Tochter Wilma mit dem Titel „Vererbungslehre 1935-1937“. Anhand dieses Schulheftes wird deutlich, mit welchen Inhalten die so genannte „arische Jugend“ im NS-Staat zu „rassenbewussten Volksgenossen“ geformt werden sollte. Schrittweise verdrängte die nationalsozialistische Jugend- und Bildungspolitik das Erziehungssystem der Weimarer Republik.
Mit ihrem anti-intellektuellen, anti-humanistischen und judenfeindlichen Konzept der „völkischen Erziehung“ stellten sich die Nazis gegen die Aufklärung und Vernunft. NS-Propaganda und der Führerkult waren im Schulunterricht ständig präsent. Während die Ideologie der Volksgemeinschaft die sozialen Unterschiede aufheben sollte (alle „arischen“ Deutschen als Volksgenossen), wurde Hass gegen vermeintlich minderwertige Menschengruppen („Untermenschen“) geschürt. Schon kurz nach der Machtübernahme 1933 wurden im Zuge der Gleichschaltung alle jüdischen Lehrer und ein Drittel der Lehrerinnen entlassen. Die verbliebenen Lehrer wurden aufgefordert, dem Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) beizutreten. 97 Prozent von ca. 300.000 Lehrern traten daraufhin dem NSLB bei. 100.000 Lehrkräfte (32 Prozent) waren zudem Mitglieder der NSDAP. Viele davon waren zusätzlich im Führungskorps in der NS-Hierarchie, vor allem in der mittleren und unteren Ebene, aktiv (78 Kreis-, sowie 2.668 Ortsgruppen- und Stützpunktleiter). Der Samstag wurde ab 1934 zum „Staatsjugendtag“ erklärt, an dem alle Angehörigen von Jungvolk und Jungmädelbund (also nur die zehn- bis 14-jährigen) HJ-Dienst hatten und die übrigen Schüler die Schule besuchen mussten. Aufgrund diverser Probleme (u.a. Unterrichtsausfall und Leistungsrückgang) wurde dieser Tag zum 1. Januar 1937 wieder abgeschafft.
Ein „Erfolgsmodell“ war die Schülerzeitschrift „Hilf mit!“, die der NSLB ab Oktober 1933 bis September 1944 in einer Auflage fünf Millionen herausgab. Die in der Zeitschrift enthaltene Nazi-Propaganda wurde effektiv in ein harmonisches Gesamtpaket an Inhalten und Bildern verpackt, die eine völkische Familienidylle beschworen. Lehrbücher für alle Unterrichtsfächer wurden entsprechend der Nazi-Weltanschauung überarbeitet. So wurde in den Mathelehrbüchern bei der Formulierung der Aufgabenstellungen unterschwellig Gefühle der Unmenschlichkeit und des Hasses erzeugt, etwa „ein Irrenhaus kostet xxxRM, wie viele deutsche Familien könnten davon eine Wohnung bekommen?“ Oder: „Wie lange braucht ein Bomber von der französischen Grenze zu deiner Heimatstadt, und wie groß ist der Bereich, den er voll mit xxxBomben bestückt in deinem Stadtzentrum zerstören kann?“ So wurde nicht nur Angst (und damit Wut) erzeugt, sondern auch „kriegsfähiges Wissen“ vermittelt. Im Schulwesen gab es trotz des Jugendkultes weiter die Prügelstrafe, oft brutal und öffentlich verabreicht.
Heile Welt – Familienideologie im Nationalsozialismus
Folgend Prinzipien waren die Grundpfeiler im nationalsozialistischen Familiengefüge:
- Die formale Vatermacht wird geschützt (in der Praxis hieß das: absoluter Gehorsam der Kinder und der Ehefrau);
- Die Position der Frau war die der Mutter (als erfolgreiche Gebärerin für Vaterland und Führer);
Den Eltern wurde im Gegenzug das Erziehungsrecht entzogen und der Hitlerjugend (HJ) und dem Bund Deutscher Mädchen (BDM) übertragen und dem Gehorsam zum Führer verpflichtet.
- Im Konfliktfall zwischen Führer und Elternanspruch wurde das Kind angehalten, Spitzel im Dienst des Führers gegen die Eltern zu sein.
In der Schule wurden die Kinder dazu ermuntert, Glückwunschbilder zu den jeweiligen Geburtstagen der Eltern, zum Muttertag und zum Weihnachtsfest zu gestalten. Anbei einige Beispiele aus dem Elternhaus Bewersdorff:
Am 15. Januar 1935 veröffentlichte der Reichsminister für Erziehung und Volksbildung die Richtlinien zur Rassenkunde, in denen der Biologie der Schwerpunkt der Rassenkunde zugeordnet wurde. In der Schule wurden u.a. folgende Themen unterrichtet: Vererbung der Krankheiten, die Vererbbarkeit von Geisteskrankheiten. Zum Thema „Auslese“ mussten die Schüler folgendes lesen und notieren: „Die Natur vernichtet alle Krankheiten und Schwache, Hasen z.B., die nicht gut laufen, gehen zu Grunde. So haben sie keine Möglichkeit, ihre schlechten Erbanlagen durch Fortpflanzung an Nachkommen weiterzugeben. In der Natur herrscht das Grundgesetz: Kampf der Geschöpfe, Kampf der Natur und Kampf der Rassen untereinander (das Menschengeschlecht selber hat sich durch die Entwicklung der Zivilisation weitgehend entzogen). Als Züchter greift der Mensch in das Leben der Natur ein. Er trifft unter Tieren und Pflanzen eine Auslese, um eine ihm vorteilhafte Nachkommenschaft zu erzielen. Man spricht von künstlicher Auslese oder Zuchtwahl, vergleiche Forstwirtschaft, Gemüsezucht. Das Menschengeschlecht selber hat sich durch die Entwicklung der Zivilisation weitgehend der natürlichen Auslese erzogen. Es wurde jahrhundertelang nichts unternommen, um erbkranke Elemente aus dem Volkskörper auszusondern. So wuchs die Zahl der Kranken auf Kosten der gesunden Teile des Volkes (die Alsterdorfer Anstalten). Das Dritte Reich will durch seine Rassengesundheitsgesetze diesem Übelstand entgegenarbeiten, z.B. ist die Vererbungslehre als Lernfach in den Schulen eingeführt, um schon die Jugend zum Verantwortungsbewusstsein gegenüber der folgenden Generation zu erziehen. Die besonders schweren Fälle dominant vererbbarer Krankheiten sollen durch das Sterilisationsgesetz (Unfruchtbarkeitsmachungsgesetz) verhindert werden.“ Zitat Ende
Im Schulheft von Wilma Bewersdorff findet sich die eigene Ahnentafel sowie die Ahnentafel von Adolf Hitler, die sie aufschreiben musste. Weiterhin Hinweise auf Gefahren der Erbhäufung (Inzucht) und die Beschreibung der eigenen Familie (Größe; Haarfarbe; Augenfarbe und Lebenslauf; Krankheiten; Todesursachen). Dann folgt das Thema „Rassenkunde“. Die Schüler sollten zu den jeweiligen „Rassen“ ausgewählte Fotos einkleben. Auch in allen anderen Fächern sollte die Rassenkunde vermittelt werden. Elvira Bauers bereits 1936 veröffentlichtes Lesebuch „Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid“, das von der NSDAP kostenlos verteilt wurde, sprach eine deutliche Sprache.
Jugend im Nationalsozialismus
„Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muss weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muss das alles sein. Schmerzen muss sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muss erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend.“
Adolf Hitler
Im Jugendbereich wurde die „Hitlerjugend“ (HJ) zur Kerntruppe der „Großdeutschen Jugendbewegung“. Im Oktober 1931 ernannte Hitler Baldur von Schirach zum „Reichsjugendführer der NSDAP“. Dieser formte in den nächsten Jahren die HJ so recht nach dem Geschmack Hitlers als Synthese von Wehrbewegung und Jugendbewegung. Bis zum 17. Juni 1933 hatte dieser dann alle anderen Jugendbewegungen aufgelöst bzw. verboten; 1935 wurde die Landjugend, 1936 die Sportjugend integriert.
1934 sind bereits 3,5 Millionen Jugendliche in der HJ, auch mein Vater aus dem Jahrgang 1924. Aus seinen Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, welche Faszination die hierarchisch aufgebaute HJ für junge Menschen in dieser Zeit hatte.
„Am 01.02.1934 trat ich im Alter von fast 10 Jahren freiwillig und mit großer Begeisterung in das „Deutsche Jungvolk“ Gebiet Nordmark der Hitler-Jugend ein. Es fehlten zwar noch 2 Monate bis zum 10. Lebensjahr, aber ich konnte es wohl nicht abwarten, endlich die Uniform anziehen und mitmarschieren zu dürfen.
Bis 1937 waren wir in der HJ unter uns, d.h., es waren nur Freiwillige, die mit Lust und Liebe dabei waren. So hatten wir 2 x wöchentlich Dienst: Mittwochabend war Heimatabend mit Schulung und Singen und Sonnabendnachmittag war Außendienst mit Marschübungen, Geländespielen, Sport, Wandern, Treffen mit anderen Jungzügen (4 Jungzüge = 1 Fähnlein). Mein erster Jungzugführer war Willi Möller, mein erster Fähnleinführer Johannes Köhler (1940 im Krieg gefallen).
Mit 12 Jahren wurde ich bereits zum Rottenführer ernannt (1 Rotte = 10 Pimpfe x 4 = 1 Jungzug) und war mit 18 Jahren Hauptscharführer = „Spieß“.
Als 1937 die „Staatsjugend“ proklamiert wurde, mussten alle Mädchen und Jungen von 10 – 18 Jahren in die HJ eintreten und mitmachen, es wurde Pflicht. Da kamen dann auch die zu uns, die nicht so begeistert waren und keine große Lust hatten. Dadurch hat das Ganze dann nicht mehr so viel Spaß gemacht. Da hatte man als „Führer“ schon seinen Ärger mit den „Genossen“.
Viel Freude fand ich im Spielmannszug, wo ich Querflöte und Fanfare spielte. Es war für uns ein stolzes Gefühl, mit „Fahne flattert uns voran“ und frohem Singen und Musizieren durch die Orte zu marschieren.
Der Grevensberg war unser „Feldherrenhügel“ bzw. die strategische Höhe, die wir oft erstürmt oder verteidigt haben. Ein Wollfaden am linken Handgelenk war das „Leben“. Wenn man den beim Gegner/Feind zerreißen konnte, hatte man ihn außer Gefecht gesetzt bzw. falls man ihn selbst verlor, war man erledigt.
So hatte die Gruppe gewonnen, die die meisten Wollfäden/Kampffähigen behielt oder auch die Fahne im Besitz hatte, denn „die Fahne ist mehr als Tod“ – wie im Lied.“
Aus dem Tagebuch meines Vaters
Diese Aufzeichnungen machen deutlich, dass sich das Hitlerregime gezielt auf einen Krieg vorbereitete und der Nachwuchs vormilitärisch auf den Wehrmachtsdienst eingestimmt wurde. Eltern, die sich weigerten, ihre Kinder in die Hitlerjugend zu schicken, wurden mit einem Bußgeld in Höhe von 150 Reichsmark belegt oder in Einzelgesprächen „überzeugt“.
Die Jugendgeneration dieser Zeit hatte keine Chance: Sie lernten nichts anderes als „deutsch denken, deutsch handeln“. Aus dieser Zeit stammt auch der Spruch: „Die Jungen sollen zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und schnell wie die Windhunde sein.“
Die HJ organisierte unter anderem den Ernteeinsatz bei der alljährlichen „Erzeugerschlacht“ besonders in den Kriegsjahren, weil viele Bauern als Soldaten eingezogen worden waren – 1942 halfen über zwei Millionen Jugendliche beim Einbringen der Ernte.
Zentrales Anliegen der HJ- und BDM- (Bund Deutscher Mädchen) Arbeit war die Körperertüchtigung. Ab 1934 wurden Leistungsabzeichen verliehen und Bann-, Gebietes- und Reichssportwettkämpfe ins Leben gerufen. Für die Jüngeren, die „Pimpfe“, gab es die so genannte Pimpfenprobe: In den ersten Monaten seiner vierjährigen Zugehörigkeit zum Jungvolk musste der Pimpf 60 Meter in 12 Sekunden laufen; 2,75 Meter weit springen und den Schlagball mindestens 25 Meter weit werfen können. Nach Ableistung einer anderthalbtägigen Fahrt, dem Auswendiglernen von „Horst Wessel“- und „Fahnenlied“ waren noch die so genannten Schwertworte zu sprechen: „Jungvolkjungen sind hart, schweigsam, tapfer und treu. Jungvolkjungen sind Kameraden. Der Jungvolkjungen Höchstes ist die Ehre.“
Die Aufnahmezeremonie, bei der das Treueversprechen gegeben werden musste, lag zu diesem Zeitpunkt für den Pimpf schon lange zurück. Sie fand grundsätzlich am Vorabend des 20. April statt, mit Fahnen und Fanfaren: „Ich verspreche, in der Hitler-Jugend allzeit meine Pflicht zu tun in Liebe und Treue zum Führer und unserer Fahne.“
Mitgliedschaft in der NSDAP und andere Gliederungen von 1925 bis Kriegsende 1945 in Aumühle
Eigentlich hatte Hitler kein Interesse, eine Massenpartei zu führen. Ihm ging es um die „historische Minorität“ einer revolutionären Bewegung, wie er es in „Mein Kampf“ nannte. Allein im Jahr 1932 traten 442.000 Deutsche in die NSDAP ein (zum Vergleich: das sind so viele Mitglieder wie heute SPD und CDU zusammen aufweisen und dies bei einer um ein Drittel höheren Einwohnerzahl als damals). Vor allem nach der Machtergreifung im März 1933 war den Parteioberen der Ansturm der Massen suspekt. Es gelte verschärft darauf zu achten, „Konjunkturritter“ oder „Märzgefallene“ alsbald wieder aus der Partei zu entfernen. Im Januar 1933 lag die Mitgliederzahl bei 850.000 und am 1. Mai bei 2,5 Millionen Mitgliedern. Darunter Wilhelm Bewersdorff und seine Frau Minna.
Die Parteiführung erließ ab Mai 1933 bis April 1937 einen Aufnahmestopp, weil sie nicht mehr in der Lage war, die vielen Anträge zu bearbeiten. Der „typische Parteigenosse“ war überdurchschnittlich jung, männlich und gehörte zur Kriegskinder-Generation, also den zwischen 1900 und 1915 Geborenen, die den Ersten Weltkrieg als Kinder und Jugendliche erlebt hatten. Diese Generation war geprägt durch die Entbehrungen der Kriegsjahre 1914 bis 1918; Hungersnöte durch die Seeblockaden; die militärische Niederlage; die „Dolchstoßlegende“; den Versailler Vertrag; die Revolutionen und die Inflationen. Diese Generation, so zeigte sich, war leicht zu radikalisieren. Sie war enttäuscht, verbittert und erzürnt. Die Schuldfrage war für viele geklärt: die Sozialdemokraten und die Juden sind verantwortlich. Und sie „sehnten“ sich nach einem starken Führer und einer klaren Machtstruktur.
Bisherige Chroniken von Aumühle hinterlassen manchmal den Eindruck, als habe der Nationalsozialismus einen großen Bogen um Aumühle gemacht. Mit der Machtergreifung der Nazis wurden ja nicht nur politische Gegner aus den Ämtern gejagt, sondern es ging auch um Existenzen, um Leben und Tod. Nachbarschaften und Freundschaften gingen in die Brüche, weil man nicht in der NSDAP war oder in der „falschen Partei“. Juden wurden denunziert, diffamiert, deportiert oder später in Konzentrationslagern (KZ) umgebracht. Politische Gegner, wie zum Beispiel der Aumühler Paul Lamp´l (SPD-Mitglied) verlor seinen Arbeitsplatz und wurde 1944 zeitweise ins KZ Neuengamme gesteckt. Das kann nicht ohne Auswirkungen auf das soziale Miteinander geblieben sein.
Es war eine perfide Mischung aus Angst, Unterdrückung, Kontrolle und Manipulation auf der einen Seite, aber auch der Wunsch von vielen Menschen endlich wieder zu den „Gewinnern“ zu gehören mit klaren Feindbildern und der Aussicht auf ein Großdeutsches Reich. Voraussetzung dafür war die Ausrichtung
auf einen Führerkult, der bedingungslosen Gehorsam und Unterwerfung erwartete. Klappen konnte das nur, weil so viele aktiv und freiwillig mitgemacht haben. Das Denunziantentum ging so weit, dass selbst die Naziführungsebene Mitte der 1930er Jahre erschrocken feststellt: „Wir sind ein Volk von Denunzianten geworden.“
Ein Beispiel für dieses gegenseitige Ausspionieren fand sich im Nachlass der Familie Groth. Karl Groth war Inhaber der Gaststätte am Bahnhof. Weil er sich dort kritisch über die Versorgungslage in der Kriegszeit geäußert hatte, hatten Mithörende dies an den Ortsgruppenleiter weitergetragen. Dieser schrieb dann an Karl Groth folgenden Brief:
Eine kritische Aussage führte also sofort dazu, dass mit der Gestapo gedroht wurde. Die Unterschrift unter dem Drohbrief stammt vom Ortsgruppenleiter der NSDAP – von Wilhelm Bewersdorff.
Liste von Mitgliedern der NSDAP und ihrer Gliederungen in Aumühle
Es ist das Verdienst von Nikolaj Müller-Wusterwitz und Axel Mylius aus Aumühle, dass eine Liste mit über 430 Namen von NSDAP-Mitgliedern im Archiv des Bismarckturms seit dem 7. Mai 2018 eingesehen werden kann. Diese Liste fand sich in einem Aktenordner von Paul Lamp´l (1892-1975), dessen Tochter Maria Kappenberg überließ den Ordner am 20. April 2016 mit Unterlagen über die Nachkriegszeit Herrn Müller-Wusterwitz bei einem Informationsbesuch. Paul Lamp´l war nach dem Krieg von der britischen Besatzung als „kommissarischer Gemeindevorsteher“ in Aumühle eingesetzt worden. Im Rahmen der Entnazifizierung sollten ab 1945 alle NSDAP-Mitglieder im Auftrag der britischen Besatzungsbehörde erfasst werden, die zu diesem Zeitpunkt noch in Aumühle wohnten. Die Originalliste wurde dann sorgfältig in alphabetischer Reihenfolge umgeschrieben und nach Kriterien wie Geschlecht, Parteimitgliedschaftszeiten, Gliederungen der Partei, sowie Wohnort ausgewertet.
In einem Schreiben des Regierungsrates Wolter, Aumühle, am 26. Januar 1946 an Oberkreisdirektor Dr. Baatz, Ratzeburg, äußerte dieser sein Erstaunen über die hohe Zahl der NSDAP-Mitglieder:
„Aumühle hat laut der letzten Registrierung zu meinem Erstaunen ca. 400 (NSDAP-)Parteimitglieder gehabt und scheint mithin eine Hochburg der Nazis gewesen zu sein.“
Regierungsrat Wolter, Aumühle 1946
Nach meinen Recherchen war die Anzahl der Nazis in der Zeit von 1933 bis 1945 in Aumühle noch höher. Denn zum Zeitpunkt der Erhebung wurden nur die Nazis erfasst, die noch in Aumühle lebten. Mitglieder, die bis dahin verstorben, weggezogen oder im Krieg umgekommen waren, tauchten in dieser Statistik nicht auf. Denn die NSDAP-Parteiliste erfasste 1945 nur die noch lebenden Parteimitglieder und ihre Mitgliedschaften (SS; SA; DAF; NSF usw.), die den Krieg überlebt hatten und die noch in Aumühle lebten. So war Wilhelm Bewersdorff nicht in der Liste aufgeführt, weil er am 8. Dezember 1943 verstorben war, und seine Tochter Wilma war kurz vor Kriegsende vorübergehend nach Niedersachsen gezogen und fehlte ebenfalls.
Die Machtzentrale der NSDAP im Turmwärterhaus ab 1937
1937 wurde das Wärterhaus neben dem Bismarckturm zum Verwaltungsgebäude und zur Ortsgruppendienststelle der NSDAP umgebaut. Dies war auch deswegen erforderlich geworden, weil Wilhelm Bewersdorff nicht nur der staatlich gewählte Bürgermeister von Aumühle war, sondern auch politischer Ortsgruppenleiter (OG). Eine nicht zu unterschätzende Machtkonzentration, denn der OG war in der Hierarchie der Nazis dem Bürgermeister gegenüber weisungsbefugt, auch wenn dies nicht dem bisherigen Landesrecht entsprach.
Bewersdorff war damit zuständig für alle Bewohner von Aumühle und zugleich für alle Parteimitglieder der NSDAP. Um alle 1.500 Einwohner (1937) und die über 435 NSDAP-Mitglieder laut Liste vom Mai 1945 optimal kontrollieren und überwachen zu können, standen dem ihm eine große Anzahl von freiwilligen Helfern und Helferinnen zur Verfügung. Ihnen gegenüber war er weisungsbefugt. In ihren braunen Uniformen und Dienstrangabzeichen gab es vielen das Gefühl von Macht und eine besondere Form der Befriedigung. Sie konnten in dieser Funktion in das Leben einzelner Mitmenschen hineinwirken. Außerdem bot die NSDAP in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Arbeit und Brot und vor allem ein Maß an sozialer Anerkennung und Macht, wovon viele bisher nur geträumt hatten. Die Parteibürokratie lockte mit vergleichsweise hohen Gehältern und einem 13. Monatsgehalt.
Hoheitsträger in Aumühle – aufgelistet nach Hierarchie und Anzahl (…):
- Ortsgruppenleiter Wilhelm Bewersdorff (1)
- Blockfrau (1); Blockwartin (3); Blockwart (4)
- Blockleiter (12); stellv. BL. (1); Blockleiterin (8)
- Zellenleiter (1); Zellenleiterin (1)
- Blockhelfer (5); stellv. BH (1); Blockhelferin (3)
- Blockwalterin (1)
Dieses Kontroll- und Überwachungsnetzwerk war lückenlos und perfekt organisiert. Vom Hochschulungsamt der NSDAP wurden deren Aufgaben wie folgt beschrieben: „Der Hoheitsträger muss sich um alles kümmern. Er muss alles erfahren. Er muss sich überall einschalten.“
Die Aufgaben im Einzelnen:
- Für Winterhilfswerk und Eintopfsonntag sammeln;
- Kontrollieren, ob der „fleischlose Tag“ eingehalten wird;
- Zur Durchsetzung der Rassenpolitik meldet er „Judenfreunde“;
- Er besorgt die Lebensmittelkarten und organisiert die Verteilung;
- Er achtet auf die Entrümpelung der Dachböden wegen Brandgefahr bei Luftangriffen;
- Ist Ansprechpartner für Denunziation;
- Achtet auf die Einhaltung der Luftschutzverordnung (Verdunkelung);
- Kontrolliert Besitz und Hissen der Hakenkreuzfahne bei Anlässen;
- Notiert kritische Äußerungen zum Regime und leitet sie weiter;
- Kontrolle und Meldung über das Hören von Feindsendern;
- Meldet Witze und abfällige Äußerungen über Hitler oder das Regime;
- Meldet sexuelle oder freundschaftliche Beziehungen zu Fremdarbeitern oder jüdischen Mitmenschen;
- Mitgliedsbeiträge der Partei und die NSU (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) einsammeln;
- Verteilung und Versteigerung der geplünderten Wert- und Sachgegenstände von Juden, sowie Nahrungsmittel aus den eroberten Kriegsgebieten;
- Verteilung der seit 1935 monatlich erscheinenden Parteizeitschrift.
Alle diese Informationen mussten an den Ortsgruppenleiter (OG) weitergeleitet werden. Der OG war beauftragt, Fragebögen nicht nur über Mitglieder der NSDAP, sondern über alle Einwohner eines Ortes anzufertigen. In bis zu 45 Fragen wurde die politische Zuverlässigkeit im Sinne der Nazis regelmäßig überprüft. Aufgabe des OG war es auch, durch geeignete Veranstaltungen die Bevölkerung nationalsozialistisch auszurichten. Die „Waldgrotte“ war dafür der geeignete Ort.
Im Turmwärterhaus tagte unter Führung des OG regelmäßig der Ortsgruppenstab, der für Schulungen, Organisation, Geschäftsführung und Propaganda verantwortlich war. Dazu gehörten die obersten Vertreter der örtlichen Teilorganisatoren der NSDAP (Deutsche Arbeitsfront und NS-Frauenschaft). Minna Bewersdorff war als Ortsfrauenschaftsleiterin für die Nationalsozialistische Frauenschaft (NSF) aktiv. Dazu gehörten regelmäßige Treffen mit den Frauen, die ebenfalls im NSF waren (laut Liste von 1945: 111), sowie Sammelaktionen für das Winterhilfswerk. Die NSF war mit 111 Frauen die größte Ortsgruppe in Aumühle.
Das Winterhilfswerk verankerte im öffentlichen Bewusstsein nachhaltig das Bild einer sich ausschließlich um das Wohlergehen der Bevölkerung sorgenden Staatsführung. Diese Sammlungen fanden ganzjährig statt. Sammeldosen standen in den Geschäften und wurden regelmäßig geleert.
In den Wintermonaten und in den Kriegsjahren steigerte sich im Reich die Spendensumme ständig:
- 1940/41: 919 Tausend Reichsmark (Gegenwert heute: 3,7 Millionen Euro)
- 1941/42: 1,209 Millionen Reichsmark
- 1942/43: 1,595 Millionen Reichsmark
Die Straßensammlungen nahmen angesichts der ungehemmten „Einsatzbereitschaft“ der Hitler-Jugend (HJ), Bund Deutscher Mädchen (BDM), Sturmabteilung (SA) und Schutzstaffel (SS) manchmal den Charakter von Wegelagerei an.
Spätestens mit der Übernahme des Amtes als Ortsgruppenleiter hatte Wilhelm Bewersdorff die Ideologie des Nationalsozialismus und die Diktatur des Hitler-Faschismus mitgetragen und befürwortet. Nicht nur die vielen Parteimitglieder und Funktionsträger, sondern die meisten Deutschen fanden Nationalsozialismus fast bis zum Schluss okay. Von daher war der Hitler-Faschismus eine „Zustimmungsdiktatur“ und nicht eine Diktatur gegen das Volk. Die vielgemachte Ausrede „wir haben das alles nicht gewusst“ war der Versuch, sich einer Verantwortung zu entziehen, die es ermöglicht hätte, sich mit der Frage nach Schuld, Scham, Sühne und Vergebung auseinanderzusetzen. Diese Chance wurde nur selten genutzt. Wir haben es nicht gelernt und es wurde uns nicht von den Eltern und Großeltern vorgelebt.
Ballungszentren von Parteimitgliedern und Mitgliedschaften in Aumühle (jeweils über 10 Personen):
Alte Hege (14); Bergstraße (24); Bismarckallee (23); Bleicherstraße (13); Börnsener Straße (20); Ellerhorst (23); Emil Specht-Allee (13); Ernst-Anton-Straße (19); Gärtnerstraße (10); Grasweg (11); Große Straße (67); Kurze Straße (15); Lindenstraße (34); Oberförsterkoppel (11); Pfingstholzallee (11); Schulstraße (11); Friedrichsruh (61).
Anzahl der Mitglieder in Aumühle, die in der SA (Sturmabteilung) waren: 52.
Der Anspruch der SS (Anzahl: 5) , eine neue Elite in der NSDAP zu bilden, hatte einen auffälligen Zustrom namhafter Vertreter der Aristokratie zur Folge, die sich die Wiederherstellung von traditionellen Wert- und Sozialmustern erwarteten. Des weiteren fanden hier viele Männer aus der „verlorenen Frontgeneration“ ihre Heimat, die geprägt waren vom Kriegserlebnis der Jahre 1914 bis 1918 und dem materiellen Elend der Nachkriegszeit.
Der Sicherheitsdienst (SD)
Der SD war den jeweiligen Gruppierungen in den Ortsgruppen (OG) übergeordnet und weisungsbefugt. Er hatte seinen Sitz in Lauenburg. Der SD war seit 1934 für die Ermittlung von Gegnern des NS-Regimes zuständig, die Gestapo für deren Bekämpfung. Mit Hilfe eines ausgedehnten Spitzel- und Informationsnetzes überwachte der SD die deutsche Bevölkerung. Rund 30.000 so genannte Vertrauensleute informierten den SD über alle Bereiche des öffentlichen Lebens und lieferten Berichte über die Wirkungen der von der NS-Führung verfügten Maßnahmen und Gesetze.
Am 27. September 1939 wurde der SD mit der Sicherheitspolizei zum Reichshauptamt (RSHA) unter Leitung von Heinrich Himmler zusammengefasst. Der Verschmelzungsprozess von staatlichen Polizei- und Überwachungsämtern mit denen der NSDAP war damit abgeschlossen.
Reichshauptamt (RSHA)
Staatliche Polizei- u. Überwachungsämter
- Ordnungspolizei
- Schutzpolizei
- Kriminalpolizei
Politische Ämter der NSDAP
- Sicherheitspolizei
- Kriminalpolizei
- Gestapo
Die Zweite Volkszählung (VZ) im Deutschen Reich am 17. Mai 1939 diente den Nazis zur totalen Erfassung ihrer Bürger und zur Aussonderung. Sie war bisher die größte und umfassendste VZ der Welt. Und sie war von besonderer Brisanz, denn sie ermöglichte dem NS-Regime nicht nur die totale Erfassung und Klassifizierung der Deutschen, sondern auch die aller „Nicht-Arier“. Schon am 16. Juni 1933 hatten die neuen Machthaber in der Ersten Volkszählung kurz nach der Machtübernahme Hunderttausende „Glaubensjuden“ registriert. Im Vergleich zu 1933 gibt es eine kleine, aber wichtige Veränderung: Eine beigelegte „Ergänzungskarte“ für Angaben über „Abstammung und Vorbildung“. Sie fragt nicht nur nach der Religion, sondern auch nach der „Rasse“, um „Volljuden“ sowie „jüdische Mischlinge ersten und zweiten Grades“ nach Maßgabe der „Nürnberger Gesetze“ von 1935 zu erfassen. Diese Ergänzungskarte musste in einem separaten, verschlossenen Umschlag abgegeben werden. Diese scheinbare Diskretion diente nur dem Zweck, die Menschen in Sicherheit zu wiegen und wahrheitsgemäße Antworten zu erhalten.
Die Zähler gingen von Tür zu Tür, um die Zahlbögen mit der Ergänzungskarte einzusammeln. Letztere ist für die Nazis von größtem Interesse. Die Auszählung der Juden und „Judenmischlinge“ wird daher als vordringliches „Sofortprogramm“ propagiert. Ursprünglich sollte die Zweite VZ schon 1938 stattfinden, doch aufgrund des „Anschlusses“ von Österreich im März 1938 wurde sie um ein Jahr verschoben.
Vermutlich hatte das Thema „Volkszählung“ auch den Amtsvorsteher und Ortspolizisten von Wohltorf, Adolf Ahrens, in welcher Funktion auch immer, auf den Plan gerufen. Er teilte jedenfalls dem Gemeinderat Aumühle in einem Schreiben am 5. Januar 1939 mit, dass Anita Zöllner Jüdin ist. Sie wohnte mit ihrer Familie in der Pfingstholzallee 1 in Aumühle. Die Meldung bleibt zunächst folgenlos, denn bis zum 7. Februar 1945 passiert scheinbar nichts. Es fanden sich keine Hinweise, dass diese Meldung in irgendeiner Form in der Gemeindepolitik oder im Ortsgruppenstab thematisiert worden ist. Eine tickende Zeitbombe, die erst 1945 hochging (mehr dazu am Ende des Beitrags).
In Schleswig-Holstein lebten 1933 noch über 1.400 Juden. 1939 waren es nur noch 575. Viele Juden waren mittlerweile in Großstädte abgewandert, ins Ausland emigriert oder umgebracht worden.
Neben diesen Daten aus den Volkszählungen verfügten Polizei und Gestapo ohnehin über eigene und noch viel zuverlässigere Karteien, unter anderem über erzwungene Erhebungen der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“. Ziel dieser Vereinigung war es bis 1939, Juden bei der Auswanderung „behilflich“ zu sein.
Das Judentum ist seit Jahrtausenden häufig religiösen, ideologischen und politischen Anfeindungen, Verfolgungen und Progromen auf der ganzen Welt ausgesetzt. Einmalig in der Geschichte ist dagegen die Shoah oder der Holocaust mit dem Versuch der planmäßigen und industriellen Ausrottung der „jüdischen Rasse“ durch das nationalsozialistische Deutschland. Eine Idee des Wahnsinns. Die Juden waren für die Nazis der Hauptfeind der „arischen Rasse“. Sie erklärten diese zu einer eigenen Rasse und unterstellten ihr, einen „schädlichen Einfluss auf die Qualität der arischen Rasse zu haben“. Daher müsse sie vernichtet werden. Das Ziel der Nazis war daher zunächst, die deutsche Bevölkerung von einer angeblichen Bedrohung durch die Juden zu überzeugen. Dazu betrieben sie eine gezielte und umfassende Propaganda. Der Arier war der Prototyp und das Idealbild der Nazis: blond, blauäugig, tatkräftig und treu. Bei dieser Beschreibung wurde offenbar darüber hinweggesehen, dass viele Naziführer diesem Idealbild nicht entsprachen. Propagandaplakate und Faltblätter mit den „12 Geboten zur Rassenreinhaltung“ wurden im ganzen Reich verteilt. Auch im Schulunterricht hielt diese Ideologie ab 1933 Einzug im so genannten Rasseatlas und der „Rassenkunde“. Um das Volk vor Juden zu „schützen“, erließen die Nazis mehr als 2.000 antijüdische Gesetze. Zu den wichtigsten zählten die so genannten Nürnberger Gesetze. Sie traten am 15. September 1935 in Kraft. Deutsche Brautpaare mussten einen Ahnenpass vorlegen. Diesen erhielten sie nur, wenn sie ihre arische Abstammung über mehrere Generationen nachweisen konnten. Ariern und Juden war es verboten, sich zu verheiraten. 1934 wurden 17 Millionen jüdische Menschen auf der Welt gezählt. Über sechs Millionen Menschen, die zuvor von Nazis als „Juden“ eingestuft worden waren, fielen dem Holocaust von 1939 bis 1945 zum Opfer. Das nationalsozialistische Vorgehen gegen Juden radikalisierte sich seit 1933 über Ausgrenzung, Entrechtung, erzwungene Auswanderung, physische Verfolgung, Enteignung und Ermordung. Seit dem 1. September 1939 kamen Ghettoisierung, Deportationen und Massenmorde in militärisch besetzten Gebieten in Ost- und Südeuropa hinzu.
Mit dem Überfall auf Polen 1939 begannen Massenmorde an Zivilisten in Polen. So genannte Einsatzgruppen ermordeten systematisch Juden und in großem Umfang Staatsfunktionäre, sowie so genannte Partisanen hinter der gesamten Ostfront der deutschen Wehrmacht, zum Teil unter direkter oder indirekter Beteiligung der Wehrmacht.
30. Januar 1939: Hitler kündigt die Vernichtung der „jüdischen Rasse“ in Europa an.
12. Dezember 1941: Versammlung der Reichs- und Gauleiter in der Reichskanzlei
Goebbels: „Bezüglich der Judenfrage ist der Führer entschlossen, reinen Tisch zu machen. (…) Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muss die notwendige Folge sein.“
20. Januar 1942: Wannseekonferenz in Berlin. Fünfzehn hochrangige Naziführer planen die industrielle Vernichtung der Juden (bis dahin waren schon über 900.000 Juden aus Deutschland, Polen und der
Sowjetunion umgebracht worden).
Als Wilhelm Bewersdorff dem „Führer Adolf Hitler“ die Hand gab
Am frühen Morgen des 13. Februar 1939 war die Familie Bewersdorff, besonders aber Wilhelm, aufgeregt und voller Erwartung. Der „Führer Adolf Hitler“ machte auf dem Weg von Berlin nach Hamburg Station in Friedrichsruh. Der Sonderzug fuhr in Berlin um 9:17 Uhr ab und erreichte gegen Mittag den kleinen Bahnhof im Sachsenwald. Von dort ging Hitler mit seiner Entourage und dem Gastgeber Otto von Bismarck die wenigen Meter zum Bismarck-Mausoleum auf dem Schneckenberg. Im Mausoleum legte er pressewirksam vor den Linsen auserwählter Pressefotografen einen Lorbeerkranz auf dem Sarkophag ab. Der tote Bismarck konnte sich gegen diese Vereinnahmung nicht wehren, den männlichen Bismarck-Enkeln kam dieser Besuch sogar entgegen. Einige von ihnen waren Anhänger von Hitler und erhofften sich weiterhin Unterstützung bei ihrer Karriereplanung, vor allem Otto. Anschließend besuchte Hitler das Haus der Familie Bismarck und begrüßte die zahlreichen Zuschauer und die Gäste. Unter den Gästen befand sich auch Wilhelm Bewersdorff in der Funktion als Bürgermeister von Aumühle und Ortsgruppenleiter mit NSDAP-Mitgliedschaft. Die älteste Tochter von Wilhelm hat später ihren Kindern erzählt, dass Wilhelm Bewersdorff Hitler persönlich begrüßen durfte und sich angeblich danach eine Woche lang nicht die Hände gewaschen hatte.
Nach kurzer Stippvisite und einer Stärkung fuhr Hitler mit dem Sonderzug weiter bis Dammtor. Von dort ging es zum Hotel „Atlantic“, am nächsten Tag sollte auf der Werft von Blohm & Voss das neue Schlachtschiff, die „Bismarck“, getauft werden und im Beisein von Hitler am 14. Februar 1939 um 13:09 Uhr vom Stapel laufen. Keine zwei Jahre später sank das „modernste Schlachtschiff der Welt“ in ihrem zweiten Seegefecht mit britischen Kriegsschiffen am 27. Mai 1941 im Atlantik. Nur 116 der 1.419 Besatzungsmitglieder überlebten. Über viele Jahre, auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges, trafen sich Überlebende und Angehörige der Besatzung in Friedrichsruh zu einer Gedenkfeier.
Zwischenkriegszeiten oder Vorkriegsjahre 1936 bis 1939
In geheimer Mission schickte ein deutscher Luftwaffenverband auf Befehl von Adolf Hitler von Juli 1936 bis März 1939 die „Legion Condor“ in den Bürgerkrieg nach Spanien, um den faschistischen General Franco im Bürgerkrieg zu unterstützen und um die eigenen Waffensysteme auszuprobieren, unter anderem mit einem Bombardement in Guernica (Pablo Picasso hat die Verheerungen als Gemälde eindrucksvoll festgehalten). 1938 verkündete Hitler am 13. März die „Wiedervereinigung“ seiner Heimat Österreich mit dem Reich, nachdem er vorher damit gedroht hatte, Österreich militärisch zu erobern. In Österreich selbst gab es starke nationalsozialistische Kräfte, die den „Anschluss“ zu einem Großdeutschen Reich befürworteten. Unmittelbar nach der Machtübernahme hatte in Deutschland der Terror unter Mithilfe der vielen Anhänger der NSDAP gegen Politiker, Intellektuelle und Juden begonnen. Über 8.000 jüdische Geschäfte gingen in „arischen“ Besitz oder mussten ganz schließen. Auch Angehörige der österreichischen NSDAP bereicherten sich schamlos. Das österreichische Progrom vom März 1938 übertraf im Ausmaß und Brutalität die Verhältnisse in Deutschland bei weitem. Hitler ließ dann die Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich durch eine Volksabstimmung am 10. April 1938 nachträglich billigen (siehe Foto oben). Am 30. September 1938 folgte die nächste Expansion im Sudetenland: Nach Monaten der Krise und einer von Hitler provozierten Kriegsgefahr kommt es zum „Münchner Abkommen“ mit dem Anschluss des Sudetengebietes, in dem die Abtretung des Gebietes von der Tschechoslowakei an Deutschland festgelegt wurde. Am 16. März 1939 marschierte die Wehrmacht dann in die „Rest-Tschechei“ ein und errichtete das „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“. Das Nazi-Regime setzte auch danach seine Expansionspolitik fort: Unter Androhung von militärischen Maßnahmen wurde Litauen genötigt, am 23. März 1939 das Memelland an das Deutsche Reich abzutreten. Am 23. August 1939 schloss Hitler – zur Überraschung der Welt – mit Stalin einen Wirtschafts- und Nichtangriffspakt ab; in einem geheimen Zusatzprotokoll teilten Deutschland und die Sowjetunion nicht nur Polen, sondern das ganze östliche Vorfeld Russlands unter sich auf. Es war dann keine Überraschung, dass nunmehr das seit dem Versailler Vertrag von Deutschland abgetrennte Ostpreußen in den Fokus der Begierde von Hitler geriet. Polen war da nur im Wege.
Vom 3. Mai 1938 verrichtete Wilma, die jüngste Tochter von Wilhelm Bewersdorff, ein Pflichtjahr im Rahmen des Reichsarbeitsdienstes (RAD) bis zum 1. April 1939 auf einem Bauernhof in Dargun in Mecklenburg. Eines der Pferde mit Namen „Monika“ war erst am 1. März 1939 auf den Hof gekommen und musste schon am 27. August 1939 an das Heer abgeliefert werden. Dies war schon Teil einer großen Mobilisierungsoffensive für den geplanten Angriffskrieg auf Polen.
Mit dem Überfall auf Polen begann der Zweite Weltkrieg. Hitler verkündete in einer Reichstagsrede dem deutschen Volk über den Volksempfänger: „Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!“ Der Krieg begann mit einer Lüge: SS-Männer in polnischen Uniformen hatten einen Angriff auf den deutschen Sender Gleiwitz in Schlesien vorgetäuscht. Daraufhin erklärten England und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. Sie blieben aber während des „Blitzkrieges“ gegen das militärisch unterlegene Polen untätig. Von dem von der deutschen Wehrmacht besetzten Territorium wurde, neben der bisherigen Freien Stadt Danzig, ein weitaus größeres zum Reichsgebiet erklärt, als Preußen es bis 1918 besessen hatte. Die jüdische Bevölkerung wurde in Ghettos gesperrt, die polnische Intelligenz in Konzentrationslager, polnische Frauen massenweise als Zwangsarbeiterinnen nach Deutschland deportiert, um dort auch in der Rüstungsproduktion eingesetzt zu werden. Hier zeichnete sich bereits ein Muster ab, in welcher Weise später die eroberten Gebiete und Länder ausgeplündert und von der deutschen Wehrmacht zerstört wurden. Dies setzte sich dann fort in Weißrussland mit der Ermordung von Kriegsgefangenen, Juden und anderen Zivilisten. Der Krieg war kein „normaler“ Krieg, sondern wurde als Rassen- und Vernichtungskrieg geplant und geführt. Die Wehrmacht war als Teil der nationalsozialistischen Gesellschaft mehr als bisher angenommen an diesen Verbrechen beteiligt. Währenddessen lief die deutsche Kriegsmaschinerie und die Propaganda von Joseph Goebbels auf Hochtouren. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung war zu diesem Zeitpunkt nicht gerade „kriegseuphorisch“, denn der erste Weltkrieg war gerade einmal 21 Jahre her und hatte viele Menschen traumatisiert. Im April 1940 besetzte die Wehrmacht die neutralen Länder Dänemark und Norwegen. Dies war ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht. Auch der Angriffsplan gegen Frankreich im so genannten Westfeldzug am 10. Mai 1940 nahm auf nationale Grenzen keine Rücksicht. Niederlande, Belgien und Luxemburg wurden überfallen, um die massiven Verteidigungsstellungen der Franzosen zu umgehen. Mit diesem „Blitzkrieg“ wurde ein großer Teil der deutschen Bevölkerung zunehmend „besoffen von den Erfolgen“ der deutschen Wehrmacht (Dünkirchen 26. Mai bis 4. Juni 1940). Fast täglich wurden in den Schulen neue Hakenkreuzfähnchen auf der Weltkarte platziert.
Um ledige Frontsoldaten zu ermuntern und im Krieg durchzuhalten, die so genannte Wehrertüchtigung, vermittelten der NS-Frauendienst und der Bund Deutscher Mädchen Briefkontakte zwischen Soldaten und jungen Frauen. Hierzu erhielten die Frauen ohne Wissen der Soldaten die entsprechenden Adressen oder Feldpostnummern. Ziel war es, einen brieflichen Kontakt und wohlmöglich mehr zwischen den Unbekannten anzuregen. Sinn der Aktion war es, dass Untersuchungen ergeben hatten, dass Soldaten, die Angehörige oder feste Beziehungen zur Heimat hatten, eher in der Lage waren, die Beschwernisse und Grausamkeiten der Front zu ertragen und auch disziplinierter handelten, was ihre Kampfkraft stärkte. Beispiel für einen Erstkontakt:
„Lieber unbekannter Soldat! Die besten Grüße aus Aumühle sendet Dir Wilma. Hoffentlich geht es Dir gut, von mir kann ich dasselbe berichten. Wilma. Bitte antworten, gerne mit Foto.“
Wilma Bewersdorff
Erste Warnzeichen und Verlustmeldungen von Soldaten, die an der Front starben, erreichten die Bevölkerung. Die Vorbereitungen für eine Invasion Englands musste Hitler abbrechen, nachdem die „Luftschlacht um England“ mit einer Niederlage der deutschen Luftwaffe endete. Die deutsche Luftwaffe hatte mit ihren Bombardements auf Städte wie Rotterdam (14. Mai 1940) und London (24. August 1940) den Terror gegen die Zivilbevölkerung begonnen. Es folgten Angriffe auf Coventry, Liverpool, Bristol, Manchester. Trotz eines Nichtangriffspaktes mit der Sowjetunion begann die Wehrmacht auf Veranlassung von Hitler bereits 1940 mit der Vorbereitung des „Unternehmens Barbarossa“. Der Überfall war für das Frühjahr des Jahres 1941 geplant, dann aber verzögerte sich der Termin um möglicherweise entscheidende sieben Wochen, sodass die Wehrmacht durch den früh einsetzenden Winter überrascht wurde. Einen weiteren Rückschlag im Siegestaumel musste die Marine hinnehmen, als das größte Kriegsschiff der Welt, die „Bismarck“ am 27. Mai 1941 vor der französischen Atlantikküste von britischen Torpedoflugzeugen zunächst manövrierunfähig, dann von britischen Schlachtschiffen und mit finaler Hilfe deutscher Selbstzerstörung versenkt wurde. Über 2.000 deutsche Matrosen kamen dabei ums Leben.
Das Gefühl der ersten Kriegsjahre in der deutschen Bevölkerung, gemeinsam auf der Siegerseite zu stehen und unbesiegbar zu sein, endete im Winter 1941/42 vor den Toren von Moskau. Erfrierungen von Wehrmachtssoldaten an der Ostfront führten zu verstärkten Sammelaktionen des Winterhilfswerks (WHW) von Winterkleidung und Decken.
Ein Schock für die deutsche Bevölkerung war der Luftangriff der Alliierten auf die Altstadt von Lübeck am 29. März 1942. Als erste deutsche Großstadt wurde Lübeck zum Ziel eines Angriffs und ein Teil der Altstadt zerstört. 234 Bombermaschinen waren in Süd- und Westengland gestartet und zerstörten 1.425 Gebäude, 1.976 trugen schwere und 8.411 leichte Beschädigungen davon. Die Marienkirche, der Dom und St. Petri brannten aus. Es gab 315 Tote, sowie 136 Schwer- und 648 Leichtverletzte. Zwischen 15.000 und 30.000 Lübecker verloren ihre Wohnung. Bombardierungen von Wohnvierteln in Großstädten: Kriegsverbrechen oder erforderliches Mittel, um den Gegner erfolgreich zu zermürben? Der Krieg, der dazu geführt hatte, kam mit ihnen dorthin zurück, wo er begonnen hatte. Und dies war erst der Anfang einer langen Serie von Flächenbombardements der Alliierten auf deutsche Großstädte in der Hoffnung, die Moral der deutschen Bevölkerung zu brechen und um den Krieg schneller beenden zu können. Wie sich später herausstellen sollte, war dies eine Fehleinschätzung.
Im Januar 1943 mussten die Reste der 6. Armee von General Paulus in den Trümmern von Stalingrad kapitulieren. Hier endete die Frühjahrsoffensive von 1942, die in Südrussland begonnen hatte. Ziel der deutschen Heeresführung war es, die Ölfelder im Kaukasus und die Stadt Stalingrad an der Wolga zu erobern. Der Kampf um Stalingrad wurde zur Wende im Krieg. Hitler untersagte, als sich schon die Einkesselung abzeichnete, ausdrücklich den Rückzug der 6. Armee und nahm die Vernichtung in Kauf. Von 260.000 Soldaten waren über zwei Drittel gefallen, erfroren oder an Erschöpfung gestorben. 6.000 Männer der 6. Armee kehrten Jahre nach Kriegsende aus sowjetischer Gefangenschaft zurück (1959 lief die erste filmische Adaption des Romans „So weit die Füße tragen“ . Zehn Jahre nach der Heimkehr vieler Kriegsgefangener war das ein Versuch, diesen Geschichtsabschnitt verständlich zu machen. Die sechsteilige Serie war für drei Generationen an Zuschauern ein Straßenfeger, der wochenlang die Gespräche bestimmte). Die Ausrufung des „totalen Krieges“ durch Goebbels, wenige Tage nach dieser Niederlage im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943, hatte die Mobilisierung sämtlicher materieller und persönlichen Ressourcen zur Folge.
Als die Alliierten am 29. März 1942 die Stadt Lübeck bombardierten, war selbst in Aumühle der Feuerhimmel sichtbar. Fliegeralarm und Sirenengeheul, sowie Verdunkelung bei Nacht kannten die Aumühler schon länger. Vom 18. Mai 1940 bis 1. Dezember 1941 gab es auf Hamburg 112 Luftangriffe, bis Juli 1943 erlitt Hamburg 318 Fliegeralarme, davon 137 Luftangriffe. „Achtung, Achtung – hier spricht die deutsche Luftüberwachung. Feindliche Verbände befinden sich im Anflug auf Hamburg“. So konnten es auch die Aumühler damals im Radio, dem „Volksempfänger“, hören und der Verdunkelungsaufforderung nachkommen.
Kriegshochzeit in Friedrichsruh und Tod an der Front
Gertrud, die älteste Tochter von Wilhelm und Minna, heiratete am 5. Juni 1943 Theodor Bachmann aus der Bergstraße 8 in Friedrichsruh. Theodor war seit Kriegsbeginn in der Wehrmacht unterwegs. Für die Hochzeit erhielt er unerwartet Sonderurlaub, denn die Wehrmacht war in verlustreiche Rückzugsgefechte an der Ostfront verwickelt. Gertruds Trauzeuge war ihr Vater Wilhelm. Vermutlich war auch eine schwere Erkrankung von Wilhelm der Grund für die Kriegshochzeit. Am 1. Mai 1943 hatte er sein Testament verfasst und seine Frau Minna als Alleinerbin eintragen lassen.
Theodor hatte den Dienstgrad eines Feldwebels und fuhr nach der Hochzeit zurück an die Front – in den Tod. Noch am 21. Juni 1943 beging er dort seinen 24. Geburtstag und einen Monat später starb er in Dubrowa/Weißrussland, nur anderthalb Monate nach der Hochzeit. Die Zahl der gefallenen Aumühler lag nach dem Krieg bei insgesamt ca. 90 Soldaten, die in den Kirchenbüchern und auf dem Friedhof namentlich erfasst sind.
Wann die Nachricht von Theodors Tod in Aumühle eintraf, ist nicht bekannt. „In treuer Pflichterfüllung für Führer, Volk und Vaterland“ hieß oft nur noch stereotyp in den Benachrichtigungen, da die täglichen Verlustzahlen so hoch waren, dass die Vorgesetzten keine Zeit mehr fanden, die näheren Umstände zu beschreiben oder persönliche Worte hinzuzufügen. Viel Zeit zur Trauer blieb nicht, denn es folgte der schlimmste Luftangriff auf Hamburg.
„Unternehmen Gomorrha“ vom 24. Juli bis 3. August 1943
Um 0:33 Uhr heulten am 24. Juli die Sirenen in Hamburg und Umgebung: Fliegeralarm. In vier schweren Angriffen warfen über 3.000 Flugzeuge der Alliierten innerhalb von zehn Tagen etwa 1.200 Minenbomben, 25.000 Sprengbomben, 300.000 Stabbomben, 8.000 Phosphorbomben, 5.000 Flüssigkeitsbrandbomben, 500 Phosphorkanister und 500 Leuchtbomben auf dicht besiedelte Wohngebiete ab. Ziel von Luftmarschall Sir Arthur Harris war, die 1,6-Millionen-Stadt bis auf den Grund zu zerstören. Andere Stimmen in der Kommandozentrale, dies nicht zu tun, setzten sich nicht durch. So kam es zu einem „Feuersturm“ in der Hansestadt mit großem Zerstörungspotential. Von ca. 34.000 Toten konnten nur 16.000 identifiziert werden. Es gab über 125.000 Verletzte. Nach den Angriffen flohen 900.000 traumatisierte Hamburger aus der Stadt in das Umland, auch nach Aumühle und Friedrichsruh. Noch im Dezember 1943 waren über 300.000 Menschen ausquartiert worden.
KZ-Häftlinge aus Neuengamme wurden bis zum Kriegsende für das Enttrümmern, die Bergung von Leichen, das Entschärfen von Bomben-Blindgängern und viele weitere Aufgaben eingesetzt. Sie waren für die noch verbliebenen Hamburger Bewohner anhand der Kleidung zu erkennen. Von 10.000 eingesetzten Häftlingen starben bei dieser Tätigkeit ca. 2.000 bis 3.000 Menschen.
Am 29. April 1945 trafen Bomben schließlich auch den Sitz der Familie Bismarck in Friedrichsruh:
Otto II. (geb. 25.09.1897, gest. 24.12.1975) war der erste Sohn von Herbert von Bismarck und Enkel Ottos des I.. 1927 wurde Otto II. jüngster Abgeordneter des Reichstages und gehörte der Deutsch-Nationalen Volkspartei an. Er heiratete 1928 im Berliner Dom die Schwedin Ann Mari Tengbom (geb. 1908). Mit ihr hatte er sechs Kinder, unter anderem Ferdinand von Bismarck (geb. 08.11.1930, gest. 23.07.2019), und war letzter Fürst von Friedrichsruh.
Otto II ging, ebenso wie sein jüngerer Bruder Gottfried, einen Teufelspakt mit den Nazis ein. Sie erhofften sich „prächtige Karrierechancen“. Eine erste Begegnung mit Hitler und Göring fand im Januar 1932 in Berlin statt. Otto II. ging es dabei um steuerliche Erleichterungen für die Gutshäuser und Ländereien, staatliche Subventionen und das Ausloten von Karrierechancen. Sein Ziel war ein Posten im Außenministerium – möglichst als Botschafter und mit der Möglichkeit, viel in der Welt herumzureisen und das Leben zu genießen.
Am Tag der Machtergreifung am 5. März 1933 gehörte Otto II zu den geladenen Gästen im Hotel Kaiserhof. Am 1.Mai 1933 tritt er in die NSDAP ein (Nr. 2.700.155, er war somit ein so genannter Märzgefallener). Bruder Gottfried war schon am 01.09.1932 eingetreten.
Am 12. Juli 1933 trat er eine Stelle als Botschafter in London an. Er besaß im Badeort Frinton-on-Sea ein Ferienhaus. Als die Kinder von Otto II dort in Badehosen mit Hakenkreuzen herumplanschten, löste das in den britischen Medien Empörung aus. Die ältere Schwester von Otto II, Hannah v. Bredow, hielt in ihrem Tagebuch am 7. Februar 1933 fest: „Ann Mari in seliger Nazibegeisterung – ein ahnungsloses Schwedenkind“. In einer Rede in London verteidigte er die Maßnahmen der Nazis gegen die Juden.
Otto II konnte nun seinen Leidenschaften nachgehen: der Jagd, dem Golf- und Polospiel sowie schönen Autos. Mit seiner hübschen Frau war er ein gern gesehener Gast in der Londoner High Society.
Ende November 1936 kehrte Otto England den Rücken und arbeitete zunächst in Berlin für das Auswärtige Amt. Von den 12 Jahren des Deutschen Reiches hat er nur vier Jahre im Reich zugebracht und die restlichen Jahre mit der Familie in London und Rom gelebt. Sein Amt als Mitglied des Aumühler Kirchenvorstandes nahm er nur auf dem Papier wahr. Pastor Giese hatte sich mehr von den Deutschen Christen erhofft. Sie waren von den Nationalsozialisten per Gesetz zur Hälfte in die Kirchenvorstände berufen worden. In der Realität brachten sie das klassische Kirchenleben in Aumühle zum Erliegen, da die Nazis alternative Rituale (Trauungen, Weihnachtsfeiern u.a.m.) entwickelten (siehe auch „Kirche im Nationalsozialismus“).
Am 13. Februar 1939 stattete Adolf Hitler Friedrichsruh einen Kurzbesuch ab (siehe auch: als Wilhelm dem Adolf die Hand schüttelte). In die Festgesellschaft – andere Bismarcks waren aus allen Teilen des Landes angereist, um dem Führer zu huldigen – platzte der NSDAP-Ortsgruppenleiter aus Reinbek, ein ehemaliger Bediensteter des Fürsten, und gab folgendes Statement ab: „Was Ihr großer Ahnherr nicht fertiggebracht hat“, rief der gelernte Schuster aus Reinbek, „wir werden es erfüllen und zu Wege bringen. Denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt.“
Am Tag darauf wohnte Adolf Hitler dem Stapellauf des Kriegsschiffes (die „Bismarck“) in Hamburg bei.
Ende September 1943 kehrte Otto II wieder nach Friedrichsruh zurück. Wenige Wochen zuvor hatte es dramatische Tage und Stunden in Friedrichsruh gegeben. Eine Flüchtlingswelle von mehreren Hundert Menschen hatte sich Zutritt zum Gelände der Bismarcks verschafft. Bedienstete und Polizei waren machtlos.
Siebenmal zwischen dem 25. Juli und 3. August 1943 warfen in der Operation „Gomorrha“ fast 3.000 britische und amerikanische Bomber über 8.300 Tonnen Spreng- und Brandbomben auf die Stadt Hamburg. Zehn Tage und Nächte dauerte das Inferno. 750.000 Hamburger wurden obdachlos. Fast genau die Hälfte aller 360.000 Wohnungen waren zerstört. Ganze Stadtteile wurden ausradiert: Hammerbrook, Barmbek, Hamm und Eilbek. 40.000 Menschen starben. 900.000 Menschen flohen aus Hamburg: zu Fuß, mit der Bahn (sofern diese noch intakt waren), mit Booten und Schiffen Richtung Bergedorf und Geesthacht, mit dem Fahrrad. Nur raus aus dem Inferno. Viele Menschen waren traumatisiert, überwiegend Frauen, Kinder und ältere Männer. Sie hatten nur ihr Leben retten können. Viele hatten in den Flammen Angehörige verloren und Menschen sterben sehen. Nun standen einige Hundert Ausgebombte vor dem Bismarck-Anwesen und suchten Hilfe in Form von Unterkunft, Essen und ärztlicher Versorgung. Angestellte der Bismarcks und die Polizei wollten das gewaltsame Betreten des Geländes verhindern, aber scheiterten angesichts der Massen und deren Entschlossenheit. Erst nach einigen Tagen gelang es der Bismarck-Verwaltung, in Zusammenarbeit mit staatlichen Ordnungskräften, die Menschenmenge zu beruhigen und Hilfe zu organisieren. Ein Sonderzug brachte dann die Flüchtlinge nach Mecklenburg. Wohin genau und wie die Hilfe konkret aussah, ist nicht überliefert.
Quelle: Jochen Thies „Die Bismarcks – eine deutsche Dynastie.“ Piper Verlag März 2015
Die seit 1940 reichseinheitlich gezeigte „Deutsche Wochenschau“ wurde zu einem Hauptanziehungspunkt des jeweiligen Vorprogramms. Wöchentlich erlebten rund 20 Millionen Kinobesucher „hautnah“ die scheinbar immerwährenden Erfolge der deutschen Soldaten mit. Niederlagen wurden systematisch verschwiegen oder ins heldenhafte umgedeutet. Die Lügenpropaganda war perfekt inszeniert. So ist es nicht verwunderlich, dass viele Deutsche die drohende oder sich abzeichnende militärische Niederlage gar nicht oder erst (zu) spät realisierten. Nur wer auf Frontberichte aus erster Hand zurückgreifen konnte, der musste sich langsam mit den Realitäten einer Niederlage und den damit verbundenen Ängsten auseinandersetzen. Keiner hatte eine Idee oder einen Plan B, wie es ohne Hitler und den Nationalsozialismus weitergehen sollte, denn die meisten hatten sich auf ein „1.000-jähriges Reich“ eingestellt. Das daraus nur zwölf Jahre werden sollten, hatten nur ganz wenige geahnt oder erhofft. Vielen Menschen fiel es nach Kriegsende schwer, sich mit den Realitäten der zerstörten Städte, dem Grauen der Konzentrationslager und dem Holocaust auseinanderzusetzen. Das eigene Überleben stand oft im Vordergrund.
Im Zweiten Weltkrieg kamen in den 69 Monaten Krieg stündlich ca. 100 deutsche Soldaten ums Leben. Doch waren es in den letzten 29 Monaten, ab 1943, sehr viel mehr. Allein an der Ostfront sind vom 22. Juni 1941 bis 31. Dezember 1944 ca. 3,5 bis 4 Millionen Soldaten ums Leben gekommen oder in sowjetischer Gefangenschaft gestorben. Hinzu kommt noch die Zahl der Verletzten (3.535.455 Soldaten) und der Vermissten (1.062.464 Soldaten). Die Zahl der toten Zivilisten geht in die Millionen.
Die meisten Deutschen nahmen die NS-Propaganda vom „Endsieg“ nicht mehr ernst. Schließlich verblasste der Hitler-Mythos, der bis 1944 eine integrierende Wirkung entfaltet hatte. Als „GröFaZ“ – „größter Führer aller Zeiten“ – wurde er verspottet, aber darauf stand die Todesstrafe. Nach dem missglückten Attentat am 20. Juli 1944 ließ er sich kaum noch in der Öffentlichkeit blicken. Seine Schergen verhafteten bis zuletzt noch viele Menschen, die auf irgendwelchen Todeslisten standen oder sich kritisch zum Krieg oder zum Nazisystem äußerten.
Und es machte einen riesigen Unterschied, ob man im beschaulichen Aumühle auf das Ende des Krieges wartete oder man sich als Zivilist auf der Flucht befand, aus der Heimat (u.a. aus Ostpreußen; Pommern; Schlesien) vertrieben wurde und alles hinter ich lassen musste mit einem unbekannten Ziel in der Hoffnung, zu überleben. Und nicht überall war man willkommen, auch nicht in Aumühle. Insgesamt haben in den Jahren 1944 bis 1950 durch Flucht, Vertreibung oder Umsiedlung über 15 Millionen Deutsche ihre Heimat verloren.
Der Zweite Weltkrieg hatte weltweit geschätzt mehr als 70 Millionen Menschenleben gefordert, die Verbrechen und Kriegsfolgen mit einbezogen. Im Verhältnis zur damaligen Einwohnerzahl hatte Polen (mit 17,2 Prozent) die meisten Tote zu beklagen, gefolgt von der Sowjetunion (14,2 Prozent), Jugoslawien (10,6 Prozent), Ungarn (10,3 Prozent) und Deutschland (9,2 Prozent). Die Opfer deutscher Massenverbrechen im Kriegsverlauf wurde auf über 13 Millionen Menschen geschätzt, darunter: Juden 5,85 Millionen; Sowjetische Kriegsgefangene 3,15 Millionen; Roma und Sinti 150.000; Euthanasieopfer 260.000; Deportationen, nichtjüdische Zivilisten, KZ-Haft, Zwangsarbeit 3,75 Millionen Menschen.
Tod von Wilhelm Bewersdorff
Der erste hauptamtliche Bürgermeister von Aumühle starb am 8. Dezember 1943 im Allgemeinen Krankenhaus Barmbek in Hamburg. Über die Todesursache konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Am folgenden Tag fand um 20 Uhr eine Sitzung der Beigeordneten und Gemeinderäte statt. Einziger Tagesordnungspunkt: Tod des Bürgermeisters (BM).
Im Protokoll ist auf den Seiten 131/32 festgehalten:
- „Der erste Beigeordnete Wenck machte die Mitteilung vom plötzlichen Tod des Bürgermeisters Bewersdorff, der am 8. Dezember nach kurzer schwerer Krankheit verschieden ist. Der Gemeinderat ehrte das Andenken des Toten durch Erheben von den Plätzen. Wenck würdigte die vielen Verdienste des Bürgermeisters, der über viele Jahrzehnte die Geschicke der Gemeinde Aumühle in hervorragender Weise geleitet hatte. Da die beiden Beigeordneten Wenck und Stumme selbst infolge sehr starker beruflicher Beanspruchung nicht für die Vertretung des BM in Frage kommen könnten, hat Wenck den Landrat gebeten, den Bürgermeister Suhr, Wentorf mit der kommissarischen Wahrnehmung der Geschäfte des BM zu beauftragen. … Wenck machte davon Mitteilung, daß Stumme vom Kreisleiter kommissarisch zum Ortgruppenleiter der Ortsgruppe Aumühle bestellt sei. Ferner entwickelte Wenck das Programm für die Beerdigung des BM am Sonntag, dem 12. Dezember 1943, 14 ½ Uhr. Der Begräbnisplatz für den Verstorbenen wird von der Gemeinde gestellt. Anwesend: Erster Beigeordneter: Wenck, Zweiter Beigeordneter: Stumme, Gemeinderäte: Bargun, Schliemann, Rösler, Plambeck. Nichtanwesend: Eggers (Wehrmacht); Thode (Wehrmacht); Dr. Vogler (Dienstreise)“
Im Protokoll wurde erwähnt, dass für den langjährigen Gemeindeangestellten Siemers über den Landrat Urlaub beantragt worden war, dieser aber kaum genehmigt werden könne, da er „kv.“ (kriegsverhindert) ist und in Russland stehe.
Die Erdbestattung fand am Sonntag, dem 12. Dezember 1943 auf dem Aumühler Friedhof ohne kirchliche Mitwirkung statt. Im Kirchenbuch ist folgender Eintrag verzeichnet:
- „ohne kirchl. Mitwirkung von der Partei aus beerdigt mit Abschiedsfeier im Saal Waldgrotte. Am Grabe Reden des Kreisleiters und des Landrats.“.
Es gibt Fotos mit schlechter Bildqualität vom Beerdigungszug von der Straße Ellerhorst zum Waldfriedhof. Der Trauerzug wurde angeführt von einem Anhänger, auf dem der Sarg aufgebettet ist. Der Sarg war mit einer riesigen Hakenkreuzfahne bedeckt, auf der ein Kranz lag. Dahinter gingen die Witwe Minna sowie die Töchter Gertrud und Wilma. Es folgten weitere Angehörige, Freunde, Nachbarn und Dorfbewohner sowie Parteimitglieder in großer Zahl.
Ein dreißigköpfiges Musikkorps in Uniform und über zwölf Standartenträger machen deutlich, welchen Stellenwert Wilhelm Bewersdorff als Ortsgruppenleiter in der Partei hatte. Das Ganze mutet wie ein kleines Staatsbegräbnis an.
Die abschließende Feier in der „Waldgrotte“ war für die Gäste, darunter viele Parteimitglieder sowie Kreisleiter Gewecke, Amtsvorsteher Adolf Ahrens und Ortsgruppenleiter aus Wohltorf, ein vertrauter Ort und machte deutlich, dass Parteimitglied Wilhelm Bewersdorff als Bürgermeister und Ortsgruppenleiter einer von ihnen war.
Entnazifizierung nach 1945
Nach Kriegsende begannen die Alliierten mit der so genannten Entnazifizierung. Hier ging es vor allem darum, belastete Personen aus ihren Ämtern zu entfernen, zu bestrafen und zur Wiedergutmachung zu verpflichten. Mehr als 16 Millionen Deutsche waren in der Nachkriegszeit in den Westzonen aufgefordert, anhand eines Fragebogens ihre Beziehung zum Nationalsozialismus zu offenbaren. Grundlage waren die auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 gefassten Beschlüsse mit dem Ziel der Demokratisierung, Entmilitarisierung und Auflösung der NSDAP. Dazu zählte auch die Verfolgung von Kriegsverbrechen, die während des Zweiten Weltkrieges verübt worden waren. Die Umsetzung dieser Beschlüsse erfolgte jedoch in den vier Besatzungszonen (BZ) sehr unterschiedlich. In den drei westlichen BZ zählte man unmittelbar nach dem Krieg 182.000 Internierte, von denen bis zum 1. Januar 1947 ca. 86.000 aus den Entnazifizierungslagern entlassen wurden. In den westlichen Zonen kam es zu 5.025 Verurteilungen. Davon waren 806 Todesurteile, von denen 484 vollstreckt wurden. In der Britischen Zone wurden von den Spruchkammern, die mit Laienrichtern besetzt waren, wie folgt nach folgenden Kategorien geurteilt: 1) 1,3 Prozent Hauptschuldige (Kriegsverbrecher), 2) 10,9 Prozent Belastete/Schuldige (Aktivisten; Militaristen; Nutznießer), 3) 58, 4 Prozent Minderbelastete (Entlastete, die nicht vom Gesetz betroffen waren), 4) 29,4 Prozent Mitläufer/Anhänger, 5) 0,6 Prozent Anerkennung als NS-Gegner. Die Entnazifizierung samt ihrem Vehikel des Fragebogens verlief jedoch im Sand, weil zwar leichte Fälle bearbeitet wurden, jedoch zurückgestellte Anklagen gegen Schwer- und Schwerstbelastete kaum mehr zur Verhandlung kamen. Somit kam es dadurch zu einer allgemeinen De-facto-Amnesie, denn viele blieben unbehelligt. In der Bevölkerung blieb dies nicht unbemerkt und es kursierte bald der Spruch: „Die Kleinen hängt man auf, die Großen lässt man laufen.“
Am 8. Mai 1947 wurde Otto II. von Bismarck in einem Verfahren in der britischen Zone in Gruppe V – „unbelastet“ – eingestuft. Die Spruchkammer legte ihm dennoch eine Geldbuße von 100.000 Mark auf, denn die Untersuchungskommission hatte bei ihm einen gewissen Geltungsdrang konstatiert, der zu einer Mitläuferrolle im Dritten Reich geführt habe. Man verstehe nicht, hieß es im Protokoll weiter, „warum sich Bismarck als Träger eines der berühmtesten Namen in Deutschland überhaupt unter dem Nationalsozialismus als Beamter betätigt hat.“
Im Oktober 1943 lud das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal Bismarck zu einem Kreuzverhör, zu dem er aber nicht erschien, weil er ein ärztliches Attest vorweisen konnte. Den Plan, die Bismarcks zu enteignen, gaben die Briten auf (Friedrichsruh gehörte zur britischen Besatzungszone). Um der Enteignung zu entgehen, wurde der gesamte Besitz von den Bismarcks zersplittert, auf Ehefrau und Kinder aufgeteilt. Erbauseinandersetzungen waren die Folgen.
Otto II. von Bismarck widmete sich nach dem Krieg vor allem dem Wiederaufbau von Friedrichsruh. Binnen weniger Jahre wurde er ein sehr reicher Mann. Er besaß weitere landwirtschaftliche Betriebe in Übersee und auch die Brauereiaktien vom Gut Ohe brachten ihm viel Geld ein. Mit diesem Geld konnte er sich wieder schöne Autos leisten, beispielsweise ein Daimler-Benz-Cabriolet 170 S. Auch die großen Feste und Partys, wie es sie vor dem Krieg gegeben hatte, setzten in Friedrichsruh wieder ein. Die Hamburger Society war ganz erpicht auf eine Einladung vom Fürsten, um sich damit schmücken zu können. In der Bismarck-Biografie von Jochen Thieß heißt es: „Otto knauserte nicht bei den Ausgaben und ließ erstklassige Ensembles zum Tanz aufspielen“.
Dem Ziel „der vollständigen Rehabilitierung in der deutschen Öffentlichkeit“ kam von Otto II. von Bismarck ab 1951 immer näher. In demselben Jahr erschien ein Buch über den Reichsgründer Bismarck in einer Neuauflage, zu der Bundespräsident Theodor Heuss das Vorwort beisteuerte.
Ebenfalls 1951 wurde das Familienmuseum in Friedrichsruh eröffnet. Auf der Suche nach einer politischen Heimat flirtete Otto II. zunächst mit der FDP, doch er rechnete sich bei der CDU mehr Chancen aus und trat der Partei bei. Schon 1953 zog er für die CDU über den Wahlkreis Lauenburg in den Bundestag in Bonn ein. In der dritten Generation stellten die Bismarcks somit wieder einen Parlamentarier. Als Mitglied des Bundestages eröffnete sich erneut das Fenster zur Welt. Er wurde Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und konnte wieder auf Staatskosten reisen. Die nächste Stufe auf der Karriereleiter als Diplomat, Botschafter oder als Außenminister blieb ihm jedoch verwehrt.
Einer der „leichten Fälle“ im Sinne der Entnazifizierung war der von Minna Bewersdorff, der Ehefrau von Wilhelm, der als Bürgermeister und Ortsgruppenleiter bereits am 8. Dezember 1943 verstorben war. Wie so viele andere NSDAP-Mitglieder hatte Minna nur den „kleinen Fragebogen“ (nur vier statt der 114 Fragen) ausfüllen müssen:
Die vier Fragen lauteten wie folgt:
- Ich hatte in der NSDAP nicht das Amt des Ortsgruppenleiters oder ein höheres Amt inne;
- Ich war nicht Mitglied der SS (Schutz-Staffel);
- Ich hatte in der SA (Sturm-Abteilung), NSKK (National-Sozialistisches Kraftfahr-Korps), NSF (Nationalsozialistische Frauenschaft), in der Waffen-SS nicht den Dienstgrad eines Unterscharführers oder einen höheren inne
- Ich bin nicht vor dem 01.04.1933 Mitglied der NSDAP gewesen.
Dieser Fragebogen wurde an den Regierungspräsidenten in Schleswig weitergeleitet.
Vier Jahre nach Kriegsende erhielt Minna Bewersdorff am 16. Juni 1949 Post aus Ratzeburg vom „Entnazifizierungs-Hauptausschuß“ für den Kreis Herzogtum Lauenburg. Im Wege des schriftlichen Verfahrens wurde sie aufgrund diverser Mitgliedschaften in nationalsozialistischen Gruppierungen in Gruppe 4 (=Mitläuferin, siehe Kasten zur Zeitgeschichte) eingestuft.
Die Gründe:
- Mitglied der NSDAP seit 1933 (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-Partei)
- Mitglied der NSF seit 1933 (NS Frauenschaft – Ortsfrauenschaftsleiterin)
- Mitglied der DAF seit 1936 (Deutsche Arbeitsfront)
- Mitglied der NSV seit 1936 (NS Volkswohlfahrt)
- Mitglied der VDA seit 1940 (Verein für das Deutschtum im Ausland)
Minna Bewersdorff wurde in dem Schreiben aufgefordert, 20 D-Mark als Beitrag zum Wiederaufbaufonds (§§ 5,9 Abs. 8 des Gesetzes zur Fortführung und zum Abschluss der Entnazifizierung vom 10.02.1948) zu zahlen bei der Landesbezirkskasse in Bad Oldesloe. Des weiteren eine Verfahrensgebühr in gleicher Höhe. Dagegen legte Minna Beschwerde ein und begründete dies mit ihrer momentan schwierigen wirtschaftlichen Lage. Der Einspruch wurde mit Schreiben vom 26. Mai 1950 abgelehnt. Ihr wurde eine Ratenzahlung von monatlich 10 D-Mark angeboten.
Doch schon bald wurde den Besatzungsmächten klar, dass sie angesichts der Vielzahl der NS-Täter mit der Überprüfung zeitlich und personell überfordert waren. Selbst die Überprüfung und Verfolgung der schwerwiegenden Fälle aus den Kategorien 1 und 2 (siehe Kasten zur Zeitgeschichte) waren nicht zu schaffen und angesichts der politischen Großwetterlage („Kalter Krieg“) auch nicht mehr gewollt.
Kriegsverbrecher und Persilscheine
Kaum zu begreifen ist die Tatsache, dass gesuchte Kriegsverbrecher, manchmal sogar unter ihrem richtigen Namen, in Deutschland lebten und es nicht zur Verhaftung und zu einer Verurteilung kam. Ein Beispiel ist der ehemalige Kommandant des KZ Auschwitz, Richard Baer, der jahrelang als Waldarbeiter bei Fürst Bismarck in Friedrichsruh angestellt war.
Erst ein Foto in der Bergedorfer Zeitung im Jahre 1960 führte zur Verhaftung von Baer, der darauf erkannt wurde.
Nach Kriegsende hatte er sich einen falschen Namen zugelegt: Karl Neumann. Er starb drei Jahre später, noch vor Beginn der Hauptverhandlung. So konnte gerichtlich nicht geklärt werden, wieso er 15 Jahre lang unentdeckt geblieben war und welche einflussreichen Beziehungen ihn geschützt und gedeckt hatten. Offizielle Anfragen der Presse an Otto von Bismarck in dieser Angelegenheit blieben unbeantwortet. Es ist schon erstaunlich, dass Baer seit Sommer 1946 auf dem Gut im Sachsenwald unentdeckt als Forstarbeiter, in der Verwaltung sowie als Holzverkäufer und Hausmeister arbeiten konnte, 1950 mietete er sich ein kleines Haus in Dassendorf.
Richard Baer wurde am 9. September 1911 in Floß (Oberfalz) geboren, er starb am 17. Juni 1963 in der Haft in Frankfurt/Main im Alter von 52 Jahren. Baer begann seine nationalsozialistische Wachdienstausbildung am 9. April 1933 im KZ Dachau, wechselte Ende 1934 in das KZ Comlumbia-Haus in Brandenburg, 1937 und das KZ Sachsenhausen und 1938 in das KZ Buchenwald. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges nahm er mit der SS-Division „Totenkopf“ am Westfeldzug und dem Überfall auf die Sowjetunion teil. Infolge einer Kriegsverletzung kehrte er wieder zum bereits zuvor versehenen Dienst im Konzentrationslager zurück. Im Frühjahr 1942 stieg er zum Adjutanten des Lagerkommandanten Max Pauly im KZ Neuengamme auf (Pauly wird am 08. Oktober 1946 im Zuchthaus in Hameln gehängt).
Am 06.01.1942 heiratet er Maria L. aus Hamburg-Bergedorf, die Tochter eines Malermeisters. Nach einer kurzen Phase als Adjutant des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes Oswald Pohl wird er nach seinem dortigen Ausscheiden im Mai 1944 Lagerkommandant des KZ Auschwitz bis zu dessen Auflösung im Januar 1945. Ab Juli 1944 war er zusätzlich Standortältester der SS in Auschwitz. Nachdem Baer das KZ Auschwitz im Januar 1945 wegen der heranrückenden russischen Front verlassen musste, leitete er von Anfang Februar bis Anfang 1945 das KZ Mittelbau.
Nach Kriegsende setzt er sich zunächst mit seiner Ehefrau nach Südbayern ab. Zwei Kontrollen der US-Armee passierte er, ohne als SS-Angehöriger identifiziert zu werden. Er legte sich einen falschen Namen zu (Karl Neumann, geb. 11.09.1909) und gelangte im Dezember 1945 nach Hamburg, wo er sich auf dem Schwarzmarkt einen Entlassungsschein aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft besorgte. Unter dem falschen Namen meldete er sich polizeilich an und arbeitete seit Sommer 1946 auf dem Gut Bismarcks im Sachsenwald. Seine Ehefrau lebte wechselweise in ihrem Elternhaus in Bergedorf und bei ihrem Ehemann in Dassendorf. Aufgrund seiner NS-Vergangenheit mit vielen Stationen in den Konzentrationslagern des Deutschen Reiches vermied er Nachbarschafts- und Kollegenkontakte. So gelang es ihm – auch mit Unterstützung ehemaliger Nazis – fast 15 Jahre lang bis 1960 unentdeckt zu bleiben. Im ersten Frankfurter Auschwitzprozess war er als Hauptangeklagter vorgesehen. Doch er starb noch vor dem Hauptverfahren.
So versanden die nachstehenden Vorsätze und vollmundigen Gerechtigkeitsappelle schon in den Amtsstuben:
„Es soll also kein „Rehabilitierter“ glauben, daß er mit dem „Freispruch“ in der Tasche sich ungeniert neue Nazifrechheiten und reaktionäre Umtriebe erlauben kann.“
„Es kommt vor allem darauf an, daß sich das deutsche Volk und seine Institutionen, vor allem Gerichte, Spruchkammern und Entnazifizierungsausschüsse ihrer Pflicht bewußt sind, Deutschland von den letzten Resten des Nazismus und Militarismus zu säubern und Sicherungen gegen jeden Neofaschismus zu treffen.“
Viele Aumühler Bürger und Bürgerinnen hatten nach dem Ende der Nazidiktatur schnell ihr Parteibuch und andere Relikte verbrannt und jegliche Sympathien für Adolf Hitler geleugnet.
Jedoch lebten in der Villenkolonie auch nach Kriegsende noch führende Nazipersönlichkeiten, unter anderen Großadmiral Karl Dönitz in der Pfingstholzallee. Er war bis zuletzt ein glühender Verehrer von Hitler und wurde von diesem kurz vor Kriegsende zu seinem Nachfolger erklärt. Bis zuletzt fiel Dönitz auf mit Durchhalteparolen, die an die Soldaten und die Bevölkerung gerichtet waren. Er war einer der 24 Angeklagten im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Wegen Verbrechen gegen das Kriegsrecht wurde er schuldig gesprochen und am 1. Oktober 1946 zu zehn Jahren Haft verurteilt, die er bis zum 1. Oktober 1956 vollständig in Berlin verbüßte.
Dönitz bestand darauf, den „Hitlergruß als Ehrenbezeichnung“ beizubehalten. Weiterhin lehnte er eine Verantwortung der NS-Führung für Vorgänge in den Konzentrationslagern ab. Seine Pension betrug 1.300 Mark monatlich. Am 24. Dezember 1980 starb Dönitz in Aumühle. Sein Grab auf dem hiesigen Waldfriedhof wurde später zur „Pilgerstätte“ für Neonazis und altgediente Offiziere der Deutschen Wehrmacht.
US-Präsident Dwight D. Eisenhower, im Zweiten Weltkrieg General der US-Streitkräfte, schätzte die Zeit, die zur Entnazifizierung und für die Umerziehung zu demokratischen Idealen nötig gewesen wäre, auf rund 50 Jahre harte Arbeit ein. Hätte man konsequent alle Mitglieder der NS-Vereinigung angeklagt, deren verbrecherischer Charakter vom Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg festgestellt wurde, hätte man nach amerikanischen Schätzungen fünf Millionen Verfahren durchführen müssen.
Da dies nicht umgesetzt werden konnte und dann auch nicht mehr gewollt war, kam es nach 1945 dazu, dass immer mehr ehemalige NS-Mitglieder und Nazifunktionäre ihre früheren staatlichen Funktionen an anderer Stelle ausüben konnten. Wieder in Funktion, stellten sie sich gegenseitig so genannte Persilscheine aus, ließen belastende Dokumente verschwinden und beugten Recht und Gesetz zu ihrem Vorteil, siehe auch die Dokumentation „Fritz Bauer: Generalstaatsanwalt und Nazi-Jäger“. Bauer ist es zu verdanken, dass am 20. Dezember 1963 am Frankfurter Landgericht das erste große Gerichtsverfahren gegen Nazi-Kriegsverbrecher stattfand. Auch hat er dazu beigetragen, dass Adolf Eichmann in Argentinien aufgespürt und israelischen Geheimdienst nach Israel verbracht wurde.
Infiziert und durchdrungen von der Naziideologie und Moral hat diese „Elite“ die nachfolgenden Generationen wesentlich prägen können. Es wäre allerdings irreführend zu meinen, „echte“ Nazis seien nur in der NSDAP zu finden gewesen. Vor allem aber gab es sehr viel mehr Deutsche, die dem Regime zugestimmt haben, als die Partei Mitglieder hatte.
Die unterschiedliche Umsetzung und Handhabung der Entnazifizierung stieß bei den Teilen der Bevölkerung, die unter Naziregime besonders gelitten hatten, auf Unverständnis und Protest – so auch in Aumühle. Konkreter Anlass war die Weiterzahlung von Witwengeld nach Kriegsende in Höhe von monatlich 229,50 Reichsmark an Minna Bewersdorff.
Am 30. Oktober 1945 schrieb der neue Landrat von Ratzeburg an den Regierungspräsidenten in Schleswig:
- „…m.E. bestehen gegen die Weiterzahlung des Witwengeldes keine Bedenken. Das Amt der Ortsfrauenschaftsleiterin dürfte der Weiterzahlung von Witwengeld nicht entgegenstehen.“
Dennoch gab es engagierte Versuche seitens einiger Gemeindevertreter aus Aumühle, dies zu verhindern. Der kommissarische Bürgermeister und Gemeindedirektor von Aumühle, A. Wolter, wandte sich mit Schreiben vom 12. März 1946 an den Oberkreisdirektor Raaz in Ratzeburg mit folgendem Wortlaut:
- „Ich überreiche den politischen Fragebogen der Frau B.. Dazu wird ergänzend bemerkt, dass der 1943 verstorbene Bürgermeister Herr B. auch Ortsgruppenleiter gewesen ist, während Frau B. bis zum Ende des Naziregimes, d.h., bis Anfang Mai 1945 Frauenschaftsleiterin war und trotzdem bis Ende Februar 1946 ein monatliches Witwengeld von RM 229,58 erhalten hat. Ich bitte deshalb darüber, ob Frau B. ab Mai bzw. Juni 1945 überhaupt noch pensionsberechtigt gewesen ist, um grundsätzliche Entscheidung.“
Am 11. April 1946 rief Gemeindedirektor Wolter noch einmal in Ratzeburg an, um seine Bedenken persönlich und mit Nachdruck vorzutragen. In einem Aktenvermerk wurde folgendes aus dem Gespräch festgehalten:
- „…u.a. habe sich Frau B. sehr stark nazistisch betätigt und sie sei Frauenschaftsleiterin gewesen“.
Am 12. Juni 1946 endete dieser Disput mit folgendem Vermerk der Kreisverwaltung:
- „…eine Weiterzahlung von Witwengeld fällt nicht unter den Gesichtspunkt der Entnazifizierung“.
Minna Bewersdorff starb am 10. Dezember 1976 in Aumühle im 93. Lebensjahr und erhielt bis zuletzt Witwengeld. Es gibt keine Hinweise, dass sie sich nach dem Krieg kritisch mit ihrer Rolle als Leiterin in der Nationalsozialistischen Frauenschaft auseinandergesetzt hat.
Das Schicksal von Anita Zöllner
Noch am 7. Februar 1945 erhielt Anita Zöllner (Sie erinnern sich an den Hinweis mit „der tickenden Zeitbombe“? ) eine schriftliche Aufforderung der Gestapo, sich eine Woche später, am 14. Februar, für den Transport zum Deportationssammelpunkt in Hamburg (Bürgerweide) am Aumühler Bahnhof einzufinden.
Aus begründeter Angst vor der drohenden Deportation in ein Vernichtungslager wählte Anita Zöllner am 14. Februar 1945 im Alter von 57 Jahren den Freitod, einen Tag vor ihrem Geburtstag. Aufgrund der Rassenlehre galt sie als „Volljüdin“. Ihre Kinder wurden entsprechend der gängigen NS-Rassenlehre als „Halbjuden“ bezeichnet und zu Zwangsarbeit verpflichtet.
Es wurde der Familie verboten, den Sarg mit ihrem Leichnam auf dem offiziellen Weg zum Aumühler Waldfriedhof zu bringen, deshalb musste der Leichenwagen einen Umweg durch den Wald fahren. Der damalige Pastor, Karl Giesecke, lehnt es ab, eine Trauerfeier in der Kirche abzuhalten. Die Grabrede hielt deshalb ihr Sohn Kurt Zöllner, der später in der Gemeindevertretung aktiv war und von 1955 bis 1970 Bürgervorsteher wurde.
Kurt Zöllner war es aber auch, der 1969 eine Gedenkfeier auf dem Friedhof zum Volkstrauertag abbrechen ließ, als die Pfadfinder einen kritischen Beitrag zum Zweiten Weltkrieg einbringen wollten. Das „1.000-jährige Reich“ war in nur zwölf Jahren in Schutt und Asche gelegt, aber die Ideologie hatte in vielen Köpfen überlebt.
Deshalb ist es wichtig, dass immer wieder an diese Zeit erinnert wird, in dieser und in anderer Form, zum Beispiel mit „Stolpersteinen“. Es das Verdienst des Aumühler Kulturwissenschaftlers Nikolaj Müller-Wusterwitz, dem es nach fünf Jahren Recherchearbeit gelungen ist, dass drei „Stolpersteine“ auf dem Gehweg in der Pfingstholzallee 1 vom Künstler Gunter Demnig verlegt wurden, die an dieses Verbrechen erinnern und zum Nachdenken anregen sollen.
Von der Vergangenheit lernen?
Der folgende Text enthält Auszüge aus einer Rede, die Bernhard Schlink am 9. November 2023 in der Frankfurter Synagoge gehalten hat. Schlink, geboren 1944, zählt seit „Der Vorleser“ (1995) zu den international bekanntesten Schriftstellern Deutschlands. Er ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
„Ob die Menschen im Nationalsozialismus die Verbrechen begangen oder gefördert oder nur von ihnen gewusst oder auch nicht gewusst haben, weil sie nicht wissen wollten, was sie doch hätten wissen können – sie haben sich auf die eine oder andere Weise unmoralisch verhalten.
Hätten sie sich moralisch verhalten, hätte es die nationalsozialistischen Verbrechen nicht gegeben. Der Imperativ ist, sich moralisch zu verhalten, und meine Generation, die sogenannte 1968er-Generation, sah ihre Auseinandersetzung mit der Elterngeneration und deren Verschweigen und Verbrämen der nationalsozialistischen Vergangenheit als moralisches Aufbegehren.
…..
Wie leicht wird heute moralisch der Stab über jemanden gebrochen, der in der nationalsozialistischen Vergangenheit eine höhere Stellung im staatlichen oder politischen Apparat oder in der gleichgeschalteten Kultur und Wissenschaft innehatte. Wenn nicht danach gefragt wird, ob er aus Überzeugung oder Opportunismus gehandelt hat, wie abhängig oder unabhängig er war, ob es ihm um sich ging oder um andere, was seine Handlung bezweckt und bewirkt hat, lehrt es nichts. Nur im genauen Blick auf ihn und die Umstände können wir aus der Vergangenheit lernen. Lernen, wie weit man mitspielen muss und wann man sich verweigern kann, welche Möglichkeiten des Widerstands es gibt, wie man Nischen nutzt, wie man scheinbar mitspielt, aber tatsächlich sabotiert …… .
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Der genaue Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit lehrt außerdem, wie hilflos der Einzelne, der Widerstand leisten wollte, war, nachdem die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen gleichgeschaltet waren, Reichstag und Ministerien, Parteien und Gewerkschaften, Kirchen, Universitäten, kulturelle Einrichtungen, Berufsverbände und Vereine.
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Nicht jedes Verbrechen findet die gerechte Strafe. Die Weltgeschichte ist nicht das Weltgericht. Aber ein Volk begeht keine furchtbaren Verbrechen, und erst recht feiert es sie nicht, ohne Furchtbares über sich zu bringen, und sei es nur, dass die Verbrechen, die nicht bekannt, bereut und gesühnt werden, die moralische Integrität des Volks beschädigen.
Werden sie zwar gesühnt, wird die Sühne aber nur als auferlegt und nicht als verdient verstanden, werden Kinder und Kindeskinder verlockt, sich als Opfer zu fühlen und zu meinen, die anderen schuldeten ihnen etwas, das sie sich, wenn sie es nicht bekämen, schließlich nehmen dürften.
Opferanmaßung wird zum Verhängnis, und Deutschland musste sich um die Auseinandersetzung mit den im Nationalsozialismus begangenen Verbrechen nicht nur bemühen, um wieder als Volk in die Gemeinschaft der Völker aufgenommen zu werden, sondern auch, und das war nicht weniger wichtig, um die Versuchung der Opferanmaßung von den nachkommenden Generationen abzuwenden. Es gelang nicht ganz; die Opferanmaßung gehört zum rechten Narrativ und nährt den rechten Antisemitismus,, wie auch der muslimische Antisemitismus von einer Opfererzählung und -anmaßung zehrt.
Daher muss, was die nationalsozialistische Vergangenheit lehrt, …, immer wieder erinnert und vergewissert werden.“
Bernhard Schlink
Dank und Quellen
Bei den Recherchen für die Spurensuche zur „Bewersdorff-Familienchronik“ und „Aumühle im Nationalsozialismus“ haben mich folgende Personen unterstützt:
- Gerd Möller (ehemaliger Archivar im Aumühler Bismarckturm von 2006 bis 2019), der mit zahlreichen historischen Postkarten aus Aumühle dazu beigetragen hat, diesen Bericht anschaulicher zu machen;
- Erhard Bartels (aktueller Archivar), der mit mir mehrmals die über 100 Stufen ins Archiv des Bismarckturms gestiegen ist und mir zahlreiche Unterlagen zur Einsichtnahme herausgesucht hat;
- Nikolaj Müller-Wusterwitz (Kulturwissenschaftler aus Aumühle), der mir bei der Spurensuche der Bewersdorff-Familiengeschichte behilflich war und von dem ich eine Kopie der NSDAP-Mitgliederliste erhalten habe;
- Horst Zachrau, der mir den Übersichtsplan des historischen Aumühle, der „Villenkolonie Sachsenwald-Hofriede“, von 1909 zu Verfügung gestellt hat.
- Auch Dr. Schaefer, der Amtsarchivar im Amt Hohe Elbgeest, konnte mich in wichtigen Fragen professionell beraten und neue Wege aufzeigen, um an Informationen zu gelangen.
- Dank auch an die Mitarbeiterinnen des Kreisarchivs in Ratzeburg, die es mir ermöglicht haben, einen Blick in die Personalakten von Wilhelm Bewersdorff zu werfen.
- Weiterhin bedanke ich mich bei Frau Pusback aus Aumühle für die Überlassung vieler historischer Postkarten, sowie bei Axel Mylius, einem „Urgestein“ der hiesigen Gemeindevertretung. Auch er hat mir einige Duplikate aus seiner umfangreichen Postkartensammlung zur Verfügung gestellt.
- Jens Kappenberg, ein Enkel von Paul Lamp´l, hat mir Fotos seines Großvaters überlassen. Paul Lamp´l ist in der Nazizeit als SPD-Mitglied und Gemeindevertreter bedroht worden und war zeitweilig im KZ Neuengamme. Nach dem Krieg hat er sich beim Aufbau demokratischer Strukturen im Kreis und in der Gemeinde große Verdienste erworben.
- Gern denke ich auch an eine Ortsbegehung mit Bernd Bortz zurück, der mir aus erster Hand Wissenswertes über Aumühle erzählen konnte und mir bei der Spurensuche behilflich war.
- Mein Dank gilt auch Julia Wild: Da ich es liebe, die Zeiten in den Textbeiträgen zu wechseln, waren ihre Hinweise sehr hilfreich, um mich immer wieder in die richtige Zeitspur zu bringen. Auch der geübte redaktionelle Blick auf einen fehlenden Kontext hat diese Dokumentation hoffentlich noch verständlicher gemacht, auch wenn es sich um eine Thematik handelt, die sehr belastend sein kann.
- Ein großes Dankeschön geht an Arnd Schweitzer. Nicht nur, dass er mich ermutigt hat, über die Zeit des Nationalsozialismus in Aumühle zu schreiben, sondern er hat mich als erfahrener Lektor bei den Textbeiträgen beraten, sowie bei der optischen Gestaltung sehr geholfen. Mit seiner professionellen Unterstützung war es mir möglich, die nicht einfache Arbeit zu einem guten Ende zu bringen.
ULRICH SCHRÖDER